ZU TISCH – Offene Wohnküchen

Seit mehreren Jahren bereits kann man die Renaissance der Wohnküche konstatieren. Was bis in die 1940er Jahre hinein selbst in Mietwohnungen Standard war, wird heute erneut zur Selbstverständlichkeit: Eine geräumige und gemütliche Küche, die nicht nur zum Kochen dient, sondern der Mittelpunkt des Familienlebens ist.

Nachdem mangels vorhandener Bausubstanz im Nachkriegsdeutschland überall neue Siedlungsbauten unter den Prämissen schnell, kostengünstig und Flächen sparend aus dem Boden gestampft worden waren, verkam die Küche jahrzehntelang zu einem winzigen , schmalen Schlauch mit einseitig eingebauter Arbeitszeile mitsamt aller Geräte. Allenfalls ein ebenso winzig-schmales Tischchen für ein Minimum an Sitzmöglichkeit hatte noch Platz. Es war die Geburtsstunde der neuen „Essgruppe“ im Wohnzimmer. Ein möglichst freistehender Tisch mit vier passenden Stühlen rund herum und oft unpassender Deckenleuchte mit einer sogenannten Affenschaukel darüber. Das Kochen samt aller Begleiterscheinungen wie Töpfe, Pfannen und Geruch blieben verborgen. Terrinen und Saucièren zum Auftragen der Speisen, Highlights jeder Aussteuer-Porzellanserie, ließen auch im kleinen Haushalt das Gefühl vom hochherrschaftlichen Speisen aufkommen. Dass die seinerzeit für die Speisenzubereitung zuständige Hausfrau ebenfalls aus dem Blickfeld verschwand, entsprach damals leider voll und ganz dem allgemeinen Rollenverständnis. Wenn überhaupt war in den Küchen noch Platz vorhanden für eine Eckbank mit geräumigem Tisch davor. Dies war lange Zeit das Epizentrum des Familienlebens. Hier wurde gemeinsam gegessen, mit Spielen gespielt, die unter der Sitzfläche verstaut werden konnten. Hausaufgaben wurden hier erledigt, und Familienmitglieder der Vorgängergeneration, sprich Oma und Opa, halfen oft bei den Küchenarbeiten.

Am Tisch wurde geklönt, getratscht und diskutiert. Seit mehreren Jahren nun hält diese Küchengemütlichkeit wieder Einzug in die Wohnungen, leider aber zuweilen auch in Form von modernen Bank-Kreationen mit fragwürdigem Design. In jedem Fall jedoch ist die Richtung klar: Zurück zur Wohnküche als Treffpunkt der Familie, aber auch von Gästen. Schließlich beginnen und/oder enden die besten Partys in der Küche. Aber sie tritt nicht als Raum wieder ins Rampenlicht, sondern sie wird sehr oft auch ohne Wandabtrennung zu dem sogenannten Wohnzimmer zugeschlagen. Es entsteht gewissermaßen ein Multifunktionsraum, der durch entsprechende Möblierungen in verschiedene Nutzungszonen gegliedert ist. Die Zubereitung des Essens und das Speisen an sich sind wieder vereint. Niemand verschwindet zeitweilig aus dem Kontaktfeld, Kommunikation und Interaktion sind permanent möglich. Dank der Technik kann bei Bedarf jedoch das Fernsehprogramm per Kopfhörer verfolgt werden, während auf einem Bildschirm im Küchenbereich das aktuelle Rezept per Internet aufgerufen wird. Als vermeintlich lästig empfundene Essensgerüche werden durch intelligente Abzugssysteme weitestgehend eliminiert. Diese sind inzwischen auch auf dem privaten Einsatzsektor derart effektiv, dass durchaus die Gefahr besteht, über die Nase keine Speichel fördernde Vorfreude mehr auf das baldige Essen vermittelt zu bekommen.

Waren früher als Raumteiler oft berankte Bambusgitter oder grafisch durchbrochene Wandpaneele für diesen Zweck beliebte Einsatzmittel, fungieren heute der Gastronomie entlehnte Theken oder Tresen als räumliche Begrenzung und zugleich beidseitig benutzbares Bindeglied. Mit mobilen Hockern haben sie die Funktionen der ehemaligen Eckbänke übernommen. In lockerer Atmosphäre kann an ihnen gearbeitet, gegessen und gefeiert werden. Die Ausstattung dieses Möbels ist so unterschiedlich wie deren Nutzer. Von einseitig zum Kochbereich angeordneten Schubfächern und einer zum Wohnraum überstehenden Deckplatte zwecks Sitzmöglichkeit angefangne bis zu vierseitig nutzbaren Inseln mit Koch-, Brat-, Back- und Spülmöglichkeit reicht die Palette. Alles ist wie so oft eine Frage des verfügbaren Platzes, bei nachträglichen Einbauten auch von möglichen Anschlüssen, sowie Zu- und Ableitungen. Eine einfache Lösung, um eine neue Abflussleitung zum vorhandenen Anschluss an einer Seitenwand zu legen, ist die Erhöhung der gesamten eigentlichen Küchenfläche mit Hilfe eines Podestes. Darunter finden beliebig auch andere Leitungen Platz, die für eine multifunktionale „Zentralstation“ notwendig werden können. Die entsprechende Bodenfläche kann zugleich mit einem neuen Wunschbelag versehen werden. Ein weiterer Vorteil eines Podestes ist die damit automatisch einhergehende höhere Sitzposition bei einer durchgehenden Arbeitsplattenverlängerung. Es gibt so keinen lästigen Versprung, der die Essplatte in der Tiefe einschränkt. Das Problem nachträglich einzubauender Entlüftung über einer mittigen Kochstation kann dank beidseitig des Kochfeldes nach unten absaugender Lüftungstechnik ebenfalls leicht gelöst werden.

Um den offenen Koch- und Essbereich vom eigentlichen Wohnbereich optisch abzugrenzen, ohne ihn abzutrennen, kommt die sogenannte Anrichte aus den 1960er Jahren wieder groß in Mode. Neben originalen Vintage-Modellen gibt es auch wieder sehr ausgefallene neue Modelle auf dem Markt. Eine Maßanfertigung an dieser Stelle kann eine beidseitige Nutzung ermöglichen, die Deckplatte eventuell bereits verwendetes Material wieder aufnehmen und für eine homogene Optik sorgen. Sollte nur die einseitige Nutzung benötigt werden, bietet sich als Rückenwandersatz eine schmale Holzständerwand an, die in verschiedenen Höhen auch bis zur Decke reichen kann. Optisch reizvoller ist jedoch eine noch oben offene Konstruktion, welche nur eine leichte Erhöhung zu Anrichte aufweist, oder auch noch Platz für ein besonderes Bild auf einer oder beiden Seiten hat. Dieser optische Raumteiler ist zudem schnell je nach Lust und Laune oder Jahreszeit auch mal schnell neu tapeziert oder farbig gestrichen. Mit kleinem Aufwand kann hier eine große Wirkung erzielt werden. Eine weitere Möglichkeit einer verbindenden Trennwand ist ein Kamin, welcher sich zu beiden Seiten jeweils mit einer Glastür öffnet. Das Feuer ist also allseits sicht- und spürbar. Diese Variante ist jedoch nur schwerlich nachträglich zu verwirklichen. Bei einem Neubau oder umfangreichem Umbau kann dies aber ein sehr wirkungsvolles Element sein. In diesem Fall kann auch über die Option nachgedacht werden, den Wohnbereich um eine oder zwei Stufen erhöht anzulegen. Das Kaminfeuer wäre dann auf der dem Essplatz zugewandten Seite in Tischhöhe und böte eine sehr ausgefallene Perspektive.

Ob die inflationär zunehmenden Kochsendungen auf allen Kanälen für eine Rehabilitation der Küche und somit ihrer vollwertigen Integration in den offenen Wohnbereich verantwortlich sind, ist schwierig zu sagen. Fakt ist, dass Küchen sozusagen hoffähig geworden sind. Natürlich trägt auch maßgeblich die neue Generation von Küchenmöbeln zu diesem Upgrading bei. Mobile Edelstahl-Module ähnlich denen in der Gastronomie oder den heutigen Bedürfnissen angepasste Buffetschränke – die Bandbreite an individuellen Küchenlösungen ist sehr groß. Dazu kommt eine Materialvielfalt, die eine Entscheidung für die eigene Variante nicht eben leicht macht. Hauchdünn geschnittene Natursteinplatten auch als vertikale Türverkleidungen lassen einen Küchenblock monolithisch aussehen, filigran gerahmte Glasscheiben bewirken Transparenz und Leichtigkeit. Alles eine Frage der persönlichen Präferenz und des Stils. Unterm Strich bleibt zu hoffen, dass die Kombination von Kochen und Wohnen sich auch im gelebten Alltag niederschlägt, indem Mahlzeiten wieder gemeinsam am Tisch als zentralem Familientreffpunkt eingenommen werden. So erfüllt die offene Wohnküche auch einen soziokulturellen Zweck.

Text: Rainer Güntermann
Fotos: AMK