DER RUINEUR

Ich kann nicht mehr sagen, wann ich ihr das erste Mal begegnet bin. Aber es ist schon lange her. Und dennoch wollen sich meine geplagten Augen einfach nicht an ihren Anblick gewöhnen. Der Gedanke an die beginnende Gartensaison lässt mein Gesichtsfeld schreckartig einschränken, da mit Sicherheit vorhandene „Anlagen“ Zuwachs bekommen werden, und –noch viel schlimmer- immer noch neue Liebhaber mit Erstausstattungen dazukommen. Auch Sie kennen sie bestimmt: die antiken Steingut-Amphoren, die wie nach tausenden Jahren unbehelligten Daseins in der Erde nunmehr über Nacht an die Oberfläche gespült wurden. Da liegen sie nun, gekonnt umgekippt, blitzeblank geschrubbt, in der Luxusvariante noch mit einer Efeurispe unschuldig aus dem Hals schlängelnd –ob lebendig oder aus Plastik fällt dabei kaum noch ins Gewicht. Der mit Aalen gefüllte Pferdeschädel aus Günter Grass’ Blechtrommel kommt nicht im Entferntesten an die Grausamkeit dieser Terracotta-Inszenierung heran. Die Dekorationsverirrung von umgefallenen Gefäßen und drumherum drappierten Scherben ähnlich dem Erscheinungsbild antiker Ausgrabungsfelder hat aber auch noch andere –nennen wir es mal- „Entwerfer“ auf den Plan gerufen. Sie scheinen einen Riesenspaß dabei gehabt zu haben, weitere kaputte oder halbe Sachen für den Beet-Bestücker zu kreieren: Halbe Hunde, von denen nur die hintere Hälfte zu sehen ist, Maulwürfe, von denen wiederum nur der Kopf vorhanden ist oder gleich ganze Mauerruinen mit Fensteröffnungen, die in Lego-Manier frei kombinierbar im Garten als –ja was eigentlich- Sichtschutz? Windbrecher? aufgestellt werden können. Vielleicht möchte der Ruinen-Baumeister sich auch als baugeschichtskundiger Cluny-Verehrer verstanden wissen. Oder als Harry-Potter-Fan. Man weiß es nicht. Was aussieht wie Restmaterial von der Garageneinfahrt, gibt es wie dieses auch im selben Baumarkt zu kaufen. Nicht vergessen sollte man, in der Nachbarabteilung auch gleich die immergrünen Efeuranken aus Plastik zu erwerben, um die Grusel-Romantik zu vervollkommnen. Jetzt braucht man nur noch in sicherer Entfernung auf das finale Schauer-Spektakel zu warten: Ein donnerndes Gewitter – in echt.

von Rainer Güntermann