DIE INFLUENCER INFLUENZA

Winterzeit ist Erkältungszeit. Klar. Dass man gerne auf jede ihrer Varianten verzichten kann, ist auch klar. Es ist aber eine neue Welle im Anmarsch, die sich noch rasanter und flächendeckender verbreitet als die letzte Grippewelle, und gegen die scheinbar alle Gegenwehr machtlos ist. Gleichzeitig soll es aber Menschen geben, die sich freiwillig und gerne von ihr anstecken lassen, geradezu süchtig nach ihrem Krankheitsverlauf sind. Sie besuchen täglich und das stundenlang ausdrücklich den Ort mit hoher Infektionssgefahr und liefern sich den dort grassierenden Viren schutzlos aus. Gemeint sind die Internetportale von selbsternannten Influencern. Jedes dieser Wesen, das in maßloser Selbstüberschätzung überzeugt ist, dass sein Meinungssenf es wert ist, unbedingt via Internet über den Erdball verbreitet werden zu müssen, sondert in meist täglichen „Sendungen“ allerlei Halbwissen ab, was wiederum andere vernetzte Wesen scheinbar meinungslos aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Werden diese Selbstins­zenierungen outdoor auf ein Video gebannt, kann man noch interessiert nach links oder rechts auf Landschaft, Häuser oder Menschen gucken. Augenkrebsgefährlich wird es jedoch, wenn sich die betont lässig gekleideten und ebenso daherredenden Botschafter/innen indoor in ihren eigenen vier Wänden filmen (lassen). Nicht einmal Tine Wittler unter irgendwelchen Drogen bekäme derlei verirrte „Studio“-Dekorationen hin. Vor diesem Horror-Hintergrund begrüßt uns dann in überdrehter Stimmlage der oder die Protagonist/in (besser: Propagandist/in) dieser Folge, um uns kurz zu schildern, was in ihren/seinen letzten 24 Stunden für ihn/sie Lebenswichtiges passiert ist und über welche existenzelle Notwendigkeit die heutige Informationseinheit berichtet. Dabei geht es nicht nur um Mode, Kosmetik und sonstige Survival-Must-Haves, sondern zunehmend auch um Einrichtungstipps und Wohnstilberatung. Dies alles war zu ertragen, solange man selbst entscheiden konnte, ob man es aushalten wollte, nämlich ob man die Internetseite dieser Influencer (die deutsche Übersetzung „Beeinflusser“ macht die mentale Gefährdung deutlich) freiwillig anklickt und sich selbstbestimmt ihren verbalen Ergüssen ausliefert oder nicht. Diese gute, alte Zeit ist jedoch vorbei. Heutzutage entern sie nämlich auch die Vintage-Medien wie Presse, Funk und Fernsehen. In diese werden sie in scheinbarer Ermangelung von Menschen, die wirklich etwas zu erzählen haben, immer häufiger eingeladen und bekommen so ein Auditorium, durch welches sie sich sowohl einen seriösen Anstrich verpassen, als auch gleichzeitig für lukrative Werbeverträge in Stellung bringen können. Spätestens jetzt werden die Beeinflusser/innen selbst vom Markt beeinflusst und ihre missionarische Aufklärungsarbeit ad Absurdum geführt. Aber im Gegensatz zu allen Medikamenten zur Influenza-Bekämpfung kommt das beste Abwehrmittel gegen diese Influencer völlig ohne Nebenwirkungen daher: Einfach auf Aus und Exit drücken – mehr nicht.

von Rainer Güntermann