AUFSTIEG ODER ABSTIEG Treppen im Wandel der Zeit

Stufenbrunnen Chand Baori (Indien)

Kein Bauteil kann ein Haus mit mehr als einer Ebene eindrucksvoller in Szene setzen als eine Treppe. Ist beim Möbelbau der Entwurf eines Stuhles die Königsdisziplin, so kann die Planung und Ausführung einer Treppe zum Ritterschlag für den Architekten werden. Nicht umsonst assoziieren wir bei manchen berühmten Treppenanlagen auch direkt den Namen ihres Architekten oder Baumeisters.

Stadtbibliothek Stuttgart
Sehr früh schon bekamen Stufentreppen als Überwindung eines Höhenunterschiedes neben ihrem praktischen Sinn auch kulturelle Bedeutung. Zunächst waren einfach nur Kerben in Baumstämme gehauen oder ausgetretene Pfade an Hängen entsprechend mit Hand zu bequemen Stufen nachmodelliert worden. Statt sich beidseitig festhalten zu müssen, konnten unsere Urahnen ihre nun freien Hände zum Transportieren von Dingen benutzen – hoch wie auch hinunter. Aber bereits um 10.000 vor unserer Zeitrechnung war in der Osttürkei die bisher älteste bekannte Treppenanlage bei Göbekli-Tepe errichtet worden, die nicht nur einfach für den Auf- oder Abstieg von Menschen gebaut worden war, sondern zugleich auch einen repräsentativen und somit kulturellen Zweck erfüllt hatte. Sie sollte eindrucksvoll die Verbindung von Erde und Himmel darstellen. Mit den Stufentempeln in Mesopotamien, dem heutigen Irak, oder den Stufenpyramiden in Ägypten wurde dieser spirituelle Aspekt im wahrsten Wortsinn in die Höhe getrieben. In der Antike bekam die Anlage von Stufen und Treppen immer größere Bedeutung bei dem Bau von Tempeln, Amphitheatern und Plätzen, siehe das Kolosseum in Rom oder die Propyläen als Eingang zur Akropolis in Athen. Mit dem Einzug der Mehrgeschossigkeit in die Baugeschichte wurde aber neben Repräsentanz und Handwerkskunst auch die Funktionalität wieder ein wichtiges Kriterium bei der Treppenplanung. Neue Treppenformen wurden entwickelt, wie die Wendeltreppe, die nicht nur das schnelle Ausbreiten von Feuer etagenübergreifend verhinderte oder zumindest verzögerte, sondern auch bei einer Rechtswendelung dem aufsteigenden Angreifer den Einsatz seiner Waffe erschwerte, dem von oben entgegenkommenden Verteidiger jedoch viel Raum für dessen rechte Hand zum Ausholen ließ. Bekanntestes Beispiel hierfür in unserer Region ist die Treppenanlage von Kaiser Karl im Granus­turm des Aachener Rathauses. Ein paar hundert Jahre später diktierte auch die Mode, sprich Garderobe das Stufenmaß. Die sperrigen Gewänder des Barock verlangten eine geringe Tritthöhe, aber große Stufentiefe. Entsprechend viel Raum neben der ohnehin schon ausschweifenBibliotheca Laurenziaden Architektur nahmen die imposanten Treppenhäuser ein. Stellvertretend genannt seien an dieser Stelle die Würzburger Residenz mit
den symmetrischen Treppenläufen vom Architekten Balthasar Neumann, die gewendelte Anlage von Bernini für den Palazzo Barberini in Rom und Michelangelos Treppe in der Florentiner Bibliotheca
Laurenziana. Auch großzügige Stufenanlagen unter freiem Himmel wie die spanische Treppe in Rom wurden populär und prägen bis heute manches Stadtbild.

Montagne de BuerenAuch hierfür gibt es in unserer Region ein prägnantes Beispiel, die Montagne de Bueren mit ihren 374 steilen Stufen in der nördlichen Altstadt von Lüttich, ein ganz schön(er) anstrengender Aufstieg. Mit der sich international verbreitenden Arts-and-Crafts-Bewegung aus England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch Treppen in Privathäusern zu Visitenkarten nicht nur der Bewohner, sondern auch der jeweiligen Architekten. Victor Horta in Brüssel schuf um die Jahrhundertwende wahre Jugendstil-Juwelen. Als gegensätzlichen Kontrast minimierte in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts der Franzose Auguste Perret dank der neuen Verbindung von Stahl und Beton den Materialeinsatz auf ein Minimum, während kurz zuvor bereits Le Corbusier seine Treppen-Ikone für die Villa Savoye bei Paris erschaffen hatte – ebenfalls aus Stahlbeton, nicht material-, aber formminimiert, klar und schnörkellos, basierend auf grundlegender Geometrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann mit der allgemeinen Aufbruchstimmung wieder eine Blütezeit der Treppenarchitektur. Der deutsche Architekt Oskar Niemeyer reizte mit seiner freitragenden Stufenskulptur für die Retortenstadt Brasilia das Thema Leichtigkeit bis zur ultimativen Grenze aus, und in den siebziger Jahren definierte der Italiener Carlo Scarpa das Material Marmor bei seinem Auftrag für einen Friedhof in San Vito völlig neuartig, um nur zwei Beispiele zu nennen. Bedingt durch immer neue Materialentwicklungen und -kombinationen sind dem Treppenbau heute kaum noch konstruktive Grenzen gesetzt.

Lediglich der ebenfalls immer mehr in den Fokus rückende Aspekt der Sicherheit setzt der architektonischen Fantasie enge Grenzen, innerhalb derer umso mehr Kreativität gefragt ist. Leider entstehen heutzutage nur fünf Prozent der gebauten
Treppen unter der Prämisse, eine neue, extravagante und außerordentliche Lösung der Höhenüberwindung zu schaffen. Immerhin wird aber der Großteil inzwischen zumindest unter dem Aspekt von moderner Geradlinigkeit und wertigen Materialien gebaut. Nur ein Viertel aller realisierten Treppen wird allein nach der Vorgabe einfach – günstig – schnell realisiert. Dabei ist –wie im Alltag so oft- einfach nicht gleich zeitlos, günstig nicht gleich preiswert und schnell nicht gleich effektiv. Handwerker aus allen Material-Sparten können aufgrund ihrer Erfahrung oft das optimale Ergebnis aus Wünschen der Auftraggeber, Vorgaben der Architektur und Maßgaben der Behörden erzielen. Einen interessanten Überblick für unentschlossene und unsichere Bauherren bietet daher der jährlich veranstaltete Wettbewerb „Treppe des Jahres“, zu dem durchschnittlich über 400 Treppen in verschiedenen Kategorien eingereicht werden. Hier kann man sich davon überzeugen, dass man nicht nur architektonisch reizvoll auf-, sondern auch stilvoll absteigen kann.

TEXT: Rainer Güntermann
Fotos: beck+blüm-beck ARCHITEKTEN  |  www.bluem-beck.de