Menschenpflichten

Menschenpflichten

Menschenrechte! Menschenpflichten? Oh wohl, auch diese gibt es. Und ohne das Zusammenwirken dieser Beiden ist eine funktionierende Gesellschaft nicht möglich. Wer Rechte einfordert, muss auch Pflichten eingehen, sonst gerät das menschliche Miteinander aus den Fugen. Diesen eigentlich selbstverständlichen Sachverhalt noch einmal im besten Wortsinn plakativ der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, ist das Ziel des Projektes MENSCH!, das zur Zeit in aller (Aachener) Munde ist.

Am 1. September 1997 stellte das sogenannte InterActionCouncil mit dem damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, eine „Erklärung zu den Menschenpflichten“ der Weltöffentlichkeit vor. Angelehnt an die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, auch UN-Menschenrechtscharta genannt, die am 10. Dezember 1948 in Paris von der Generalversammlung der Vereinten Nationen genehmigt und verkündet wurde, soll mit der Erklärung zu den Menschenpflichten an jeden Einzelnen appelliert werden, respektvoll und menschlich miteinander umzugehen. In 18 Artikeln werden verantwortungsbewusstes Handeln und verantwortungsvoller Umgang mit Mensch, Tier und Natur thematisiert. Gleich der erste Artikel bringt es auf den Punkt: „Jede Person, gleich welchen Geschlechts, welcher ethnischen Herkunft, welchen sozialen Status’, welcher politischen Überzeugung, welcher Sprache, welchen Alters, welcher Nationalität oder Religion hat die Pflicht, alle Menschen menschlich zu behandeln.“ In Zeiten, in denen ganz aktuell einige politische Strömungen in Europa Menschen kategorisieren und ausgrenzen wollen, haben sich die Initiatoren des Projektes MENSCH! dazu entschlossen, die Menschen wieder an das Grundgerüst der Gesellschaft zu erinnern, den respektvollen Umgang miteinander. Der Aachener Künstler Detlef Kellermann mit Atelier und Galerie in der Wirichsbongardstraße, sowie Nikos Geropanagiotis und Manuela Koch-Geropanagiotis von der Kunstförder­ungsinitiative „Later is now“, die auch die jährliche ArtConnection in der Aula Carolina veranstalten, haben sich zusammengetan, um dieses Projekt öffentlich zu machen. Da Detlef Kellermann schon seit Jahren erfolgreich Bücher nicht nur illustriert, sondern auch eigene Kunst – Bücher zu unterschiedlichen Themen herausbringt, lag die Umsetzung in Form einer gebundenen Präsentation nahe. Bereits im Vorfeld fanden sich mehrere Sponsoren zur finanziellen Unterstützung der aufwändig produzierten Exemplare. Mit den Eheleuten Geropanagiotis von „Later is now“, deren Hauptaugenmerk auf dem Schaffen temporärer Räume zu Begegnung von Kunstinteressierten und Kunstschaffenden liegt, bekam auch Kellermanns weitere Idee von großen Bannern im öffentlichen Raum Leben eingehaucht. Bedient das Buch MENSCH! mit von ihm eigens hierfür erstellten Illustrationen zu den einzelnen Artikeln der Menschenpflichten eher Buch- und/oder Kunstinteressierte mit Nachhaltigkeit, bieten die zum Teil riesigen Banner mit jeweils einem Artikel und passender Illustration eher einen niedrigschwelligen Zugang für Jeden, quasi im Vorübergehen, aber aufgrund der plakativen Wirkung kaum zu übersehen.


Die Herausforderung bestand laut Kellermann gar nicht darin, für jedes der Banner zu den 18 Menschenpflichtsartikeln private Sponsoren außerhalb von Parteien, Verbänden oder sozialen Institutionen zu finden, sondern eher im Aufspüren geeigneter, sprich augenfälliger und auch zur Verfügung gestellter Wandflächen. Die jeweiligen Banner-Paten, die den Selbstkostenpreis von nahezu 3.000 Euro aufwenden mussten, durften jedoch im Gegenzug bei der Auswahl von Artikel und Standort mitentscheiden. Für den Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp als ein Pate lag es zum Beispiel nahe, für den Artikel 17 zur Ehe die Fassade des Standesamtes zur Verfügung zu stellen. Andere Paten wie zum Beispiel das Team von Brülls-Bedachungen lassen das Banner zum Artikel 8 über Ehrlichkeit jeweils am Gerüst einer aktuellen Baustelle entrollen. Die Paten Dres. Anita und Oliver Harst haben für ihr Banner zum Artikel 2 zur Würde des anderen Menschen, die Einfahrt des Büchel-Parkhauses gewählt, der Aachener Anwaltsverein für den Artikel 3 über Fairness den Eingang des Internationalen Zeitungsmuseums in der Pontstraße und die Elektrotechnik-Firma Fringsgruppe mit dem Artikel 18 zum fairen Umgang mit Kindern die Polizeiwache am Sankt-Leonhard-Gymnasium in der Jesuitenstraße. Weitere Paten wie die Sparkasse Aachen, alle Kolleginnen und Kollegen des Architekturbüros Carpus+Partner AG, die Courté Immobilien GmbH & Co KG, Herr Gries vom Institut für Textilforschung und das Sachverständigenbüro BFT Cognos GmbH zeigen mit ihren Bannern jeweils Flagge an ihren jeweiligen Bürofassaden. Weitere Paten haben bereits „ihren“ Artikel ausgewählt, jedoch noch nicht platziert.

Allen Paten gleich liegt es am Herzen, daran zu erinnern, dass das Einfordern von Menschenrechten nicht ohne das Einhalten von Menschenpflichten möglich ist. Eins bedingt das Andere, denn individuelle Rechte beinhalten auch individuelle Pflichten. Respekt, Fairness, Menschlichkeit, Zusammenhalt, Toleranz, Verantwortung, Solidarität, Gerechtigkeit, Liebe – eigentlich alles Selbstverständlichkeiten, die vom Elternhaus über Kindergarten und Schule allen heranwachsenden Menschen vermittelt werden sollten. Da aber immer mehr Kinder nicht mehr über entsprechende Familienstrukturen verfügen, und ebenfalls immer häufiger derlei Wertevermittlung auf die Schulen abgewälzt werden, soll mit dem Projekt MENSCH! wieder die Einzelperson mit ihrer sozialen Verpflichtung in den Fokus gerückt werden.

Wenn wir Pflichten nicht als notwendiges Pendant zu unseren Rechten wahrnehmen, sondern nur als unangenehmes Übel, kann auch die Politik die Balance nicht herstellen. Frei nach J.F. Kennedy sollte der Mensch nicht nur fragen, was tut die Gesellschaft für mich, sondern was kann, oder besser was muss ich für die Gesellschaft und deren Zusammenhalt tun. Um diesen Kitt zu erhalten, der uns Menschen verbindet, wie Geropanagiotis es ausdrückt, ist jeder von uns gefragt, ist jeder in der Pflicht. Und um diese wichtige und bei Vielen in Vergessenheit geratene Selbstverständlichkeit zu bewahren und weiterzugeben, wünschen sich die Initiatoren zum Beispiel auch den Einsatz ihres Buches im Ethik- oder Religionsunterricht an Schulen; warum nicht auch in diesem Zusammenhang eine spezielle „Schnitzeljagd“ zu den Fassaden mit den einzelnen Artikeln? Der Tourismus-Service der Stadt Aachen wiederum könnte die gehängten Banner in seine Stadtführungen einbeziehen oder auch spezielle Touren zu diesem Thema anbieten. Schließlich gehört auch das Flagge-Zeigen für Mitmenschlichkeit zu einer Stadt – Kultur. Noch ist das Buch MENSCH! mit allen Artikeln und Illustrationen nur in der Galerie Kellermann in der Wirichsbongardstraße in Aachen und online erhältlich.


Wie so oft im Leben, kommt es auch bei dieser Botschaft auf die Verpackung an: Nicht der erhobene Zeigefinger mit einer trockenen Ermahnung, sondern leicht verständliche Appelle, unterstrichen durch hintergründige Illustrationen, einprägsam im Stadtbild positioniert – eine wenngleich nur temporäre, aber sicherlich nachhallende Initiative, ohne Profitgedanken, allein selbstfinanzierend,
aber mit hoffentlich gesellschaftlichem Gewinn, so der Künstler Detlef Kellermann.

TEXT: Rainer Güntermann
FOTOS: Detlef Kellermann, Marcello Vercio