…UNTERWEGS…
Männerkultur-Erlebnis: Barbershop

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Männerkultur-Erlebnis: Barbershop

 

Nach den großen Metropolen hält nun auch in Aachen eine neue Männerkultur Einzug: Der Barbier. Nicht mal schnell die Haare schneiden lassen, sondern eine Auszeit nehmen, sich verwöhnen lassen, ein clubgleiches Ambiente genießen, einfach mal wieder Mann sein und den Bart pflegen lassen. Wir haben es genossen.

 

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Da ich keinerlei kostenintensiven Hobbies fröhne, gönne ich mir seit mehr als 20 Jahren bereits den Luxus, mich nicht mehr selbst zu rasieren –mit wenigen Ausnahmen wie Zeitmangel oder Urlaub-, sondern genieße einmal wöchentlich eine Nassrasur bei einem Barbier. Bereits als kleiner Junge sah ich meinem Großvater begeistert zu, wie er das Rasiermesser am Lederriemen wetzte und gekonnt sein Gesicht glättete. Die Generation meines Vaters benutzte dann bereits Wechselklingen, und mit ihnen geriet die hohe Kunst der Klappmesser-Nutzung nicht nur privat in Vergessenheit: Kaum ein Friseur bot noch die Nassrasur an. Spätestes im Zuge der frühen Aids-Hysterie in den 80er Jahren geriet sie unberechtigterweise endgültig in Verruf.

Erst mit der Eröffnung von immer mehr türkischen Salons und der dort praktizierten Selbstverständlichkeit von Haarschnitt und anschließender Rasur erlangte dieses männliche Wohlfühlpaket wieder mehr Aufmerksamkeit, zumal inzwischen auch die klassischen Klappmesser mit Wechselklingen arbeiten und somit weder hygienisch noch gesundheitlich irgendwelche Bedenken rechtfertigen.

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Ist die Rasur „beim Türken“ im wahrsten Sinne des Wortes alltäglich und somit auch schnell & preisgünstig, so sprießen jetzt Herrensalons aus dem Boden, welche die Nassrasur wieder kultivieren und sie vom Zeitaufwand und auch Preisniveau her auf eine Ebene mit einem fachmännischen Haarschnitt heben. Aber jedes gute Handwerk verlangt auch einen angemessenen Stundenlohn, das wird jedoch häufig beim Friseur-(und z.B. auch Floristen-)Handwerk vergessen.

img_8858-2Der neue Barbier besinnt sich wieder auf den Erholungsfaktor einer solchen Behandlung mit heißen und kalten Tüchern, Einschäumen und Massieren, Wässerchen, Crémes und Lotionen. Das alles braucht seine Zeit und erfordert auch seinen Preis – aber für eine halbe Stunde lang kann man sich bequem zurückgelehnt entspannen, die Gedanken schweifen lassen oder auch ganz abschalten. Dazu trägt auch maßgeblich die Atmosphäre bei: Angelehnt zumeist an amerikanische Salons ist die Einrichtung herb-männlich gehalten, mit viel dunklem Holz und Leder, Chesterfieldsofa oder alten Kinosesseln, antiquarischen Accessoires und gedämpftem Licht, mit anspruchsvoller Lektüre und ebenso anspruchsvollen Getränken.

11021170_606501632815246_2921200167952325255_n Tabu sind Radiomusik, schrillbunte Pflegeprodukte im Werbeständer, royale Klatschpresse und kitschige Spardosen mit Beste-Freundin-Namen an der Kasse. Hier wird der Mann vom Mann bedient, und zwar dezent vornehm in Weste und gediegenem Schuhwerk, gerne auch mit Hosenträgern, Fliege, Latzschürze oder Schiebermütze. Der Friseurbesuch wird zum Erholungs-Gesamtpaket – sogar für die Augen. Auch der Begriff Friseursalon wird ersetzt, in Aachen zum Beispiel durch „Kings Barbers“ oder „Baderknechte“ (in Anlehnung an die Vorläufer der Barbiere, welche in den öffentlichen Bädern rasierten, massierten, aber auch gesundheitliche Maßnahmen durchführten). Letzterer kann sogar mit einem ebenso eklektisch eingerichteten Café im Entrée aufwarten.

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Im Vergleich dazu geht es in den türkischen Salons regelrecht hektisch zu: Hier wird im 15-Minuten-Takt rasiert, was aber nicht zu Lasten der Gründlichkeit geht, zumal auch hier Nasenhaare entfernt, aber ebenso Ohrenbehaarung abgeflämmt und Augenbrauen gestutzt werden. Hier ist alles unprätentiöser, gewöhnlicher im besten Sinne, ohne Termin und ohne Chi-Chi – aber dennoch beziehungsweise bei Zeitmangel gerade deswegen eine Wohltat. Statt Alkohol wird hier Tee ausgeschenkt, das Publikum ist vielfältig und bunt gemischt. Aber auch der türkische Fachkollege mit seinen beiden Geschäftspartnern am Anfang der Elsaßstraße hat den Trend erkannt und setzt vermehrt auf hölzerne Gemütlichkeit, wechselte Neonröhren durch akzentuierte Beleuchtung aus, Wartezimmer-Stühle durch ein gemütliches Sofa und vergilbte Werbeplakate durch ansprechende Bilder und Spiegel. Man(n) ist eben wählerischer und anspruchsvoller geworden.

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TEXT: Rainer Güntermann
FOTOS: Die Baderknechte & Kings Barbers