VORGÄRTEN VISITENKARTE ODER ABSTANDHALTER


Der Vorgarten ist noch gar nicht so alt wie man vielleicht meinen möchte. Erstmalig wurde in Berlin durch eine Polizeiverordnung im Jahre 1855 eine Festlegung getroffen, die den Abstand zwischen Bürgersteigen und einer neu eingeführten Baufluchtlinie regelte. Bis dahin gab es lediglich Vorschriften bezüglich des Bauabstandes zu den Nachbarn, und diese waren mehr dem Brandschutz als einer bestimmten Gestaltung geschuldet. Nun wurden aber exakte Bebauungslinien entlang der neuen Straßenzüge festgelegt und somit auch Richtlinien zur Behandlung der entstehenden Freiflächen vor den Häusern. Als Einfriedung war nur ein Gitterwerk vorgesehen, und die Flächennutzung durfte nur Gartenzwecken dienen. Von solch einer klaren Vorgabe träumen heute einige Kommunen, würden sie doch dadurch einer derzeit immer weiter fortschreitenden Verschotterung von Vorgärten Einhalt gebieten können. Die damaligen Hausbesitzer jedoch nahmen solche stringenten Regelungen gern in Kauf, konnten sie doch im Gegenzug nach der Faustregel „Straßenbreite plus Gehwege gleich Bauhöhe“ ihre Häuser nunmehr höher und somit effektiver bauen. Die in den zahlreichen neuen Wohnsiedlungen der beiden Nachkriegsepochen entstandenen breiten Grünstreifen wurden zwar despektierlich als Hausmeister- oder Abstandsgrün beschimpft, zur Bauzeit allenfalls mit Teppichklopfstangen und Wäscheleinen bestückt, aber immerhin waren sie grün. Man konnte bolzen, bisweilen auch ein paar kleine Nutzpflanzen für private Zwecke platzieren oder im Winter einen Schneemann rollen. Die heute aufgrund ständig weiter steigender Grundstückspreise immer kleiner werdenden Baugrundstücke haben dementsprechend auch immer kleinere Flächen vor dem Haus zur Verfügung, was viele Eigentümer scheinbar zu der Erkenntnis kommen lässt, dass sich die Schaffung einer Grünanlage erst gar nicht lohnt. Nach wie vor ist die Vorgartenfläche aber so etwas wie die Visitenkarte oder das Aushängeschild der jeweiligen Bewohner und bedarf also im soziokulturellen Verständnis einer besonderen Behandlung. Unter dem vermeintlichen Aspekt der Pflegeleichtigkeit werden auf ausgelegten Untergrundfolien Kiesfelder -schlimmstenfalls mehrfarbig- aufgeschüttet, bestenfalls mit kleinen Löchern versehen, aus denen dann Formschnittgehölze herauslugen. Auf der Facebook-Seite „Gärten des Grauens“ gibt es ständig neue Beispiele dieser neuen Garten-Gattung (siehe auch Bücherliste auf Seite 73 dieser Ausgabe). Dass diese Kiesel zumeist auch noch aus asiatischen Steinbrüchen mit Kinderarbeit kommen, setzt dem gestalterischen Irrsinn noch eine zynische Krone auf. Doch in Zeiten des Klimawandels, des Insektensterbens, der Aufheizung der Städte und der Feinstaubproblematik ist ein Ausstieg aus dieser neuen Steinzeit dringend angeraten. Für ein gesundes Klima in den Städten ist jede noch so kleine Grünfläche vonnöten. Für den Erhalt der existenzbedrohten Insekten, vor allem der Bienen, sind blühende Pflanzen überlebenswichtig. Für die in den Städten heimischen Vogelarten entfallen durch versteinerte Gartenflächen dringend benötigte Nahrungsquellen. Dies alles sind keine Öko-Hirngespinste mehr, sondern beschäftigen inzwischen alle politisch Verantwortlichen in den Kommunen und auch im Bund. Aber jeder Hausbesitzer kann auch direkt aktiv werden und die Anlage nicht nur seines Vor-Gartens prüfend unter die Lupe nehmen. Ein Vorgarten hat auf kleiner Fläche verhältnismäßig viele Aufgaben zu übernehmen: Zunächst muss er eine direkte Wegverbindung vom Gehweg zum Hauseingang herstellen, eventuell mit Abzweigung zur Garage und/oder dem Hauptgarten. Für Gäste soll er einladend sein, für Passanten anschaulich, für Einbrecher abweisend. Notwendige Mülltonnen können gut einen Sichtschutz gebrauchen, Fahrräder einen sicheren Unterstand. Einblicke in das Haus sind nicht wünschenswert, Ausblicke auf unbekannte Besucher schon. Ganz schön viel auf einmal möchte man meinen. Aber mit einer durchdachten Grundstrategie lässt sich auch viel unter einen Hut bringen. Zunächst sollte das Haus selbst Grundlage für ein Vorgartenkonzept sein. Eine strenge, kubistische Architektur braucht nicht unbedingt eine ebenso streng angelegte Rasterbepflanzung, einen Wildwuchs in kurvigen Rabatten jedoch ebenso wenig. Eine gezielte Auswahl weniger Sorten oder Farben in klaren, aber natürlichen Wuchsformen reicht aus, um ein stimmiges Gesamtbild ohne übermäßigen Pflegeaufwand zu erzeugen. Ein verspieltes Haus dagegen verträgt auch gut einen durchmischten Bewuchs mit unterschiedlichen Blühern. Kleine Trockenmauern mit entsprechenden Pflanzen können natürlich wirkende Abgrenzungen bilden und auch Höhenunterschiede meistern, seien sie vorgegeben oder auch künstlich angelegt. Es ist ein weit verbreiteter Trugschluss, dass bekieste Flächen pflegeleicht seien. Auch noch so sorgfältig darunter angebrachte Folien sind nicht dauerhaft resistent gegen Wurzeltriebe mit ihren unglaublichen Kräften. Zudem weht der Wind ungehindert permanent kleinste Humuspartikel durch die Luft, die sich von oben zwischen den Kieseln ablagern. Zusammen mit jedem einzelnen, nicht sofort aufgeklaubten Blättchen, das in den Zwischenräumen verwittert, bilden sie genügend Nährboden für ebenfalls angewehte Samen, die dann eben oberhalb der Folie austreiben und dem Kiesgartenbesitzer die lange Nase zeigen. Darüber hinaus speichern Steine die Wärme und geben sie wieder an die Außenluft ab, das Vorgartenklima heizt sich also noch mehr auf. Bepflanzungen jedoch verschatten Bodenflächen, die dann eine spürbar angenehme Verdunstungskühle abgeben. Und Fluginsekten bei der Nektarbeschaffung zuzusehen ist weitaus erquicklicher, als ein Kiesbett abzustauben. Wenden wir uns also ab vom Steine-Einerlei hin zu nachhaltigen, klimafreundlichen und artenreichen Augenweiden in Form von sinnvoll angelegten Vorgärten. Der Hauszugang sollte auf direktem Weg und nicht über einen Schlingerkurs erfolgen. Auch eine ausreichende Breite ist ratsam, damit man nebeneinander gehen kann und nicht im Gänsemarsch gehen muss. Beim Pflastermaterial ist es ratsam, wie bei der Auswahl der Pflanzen darauf zu achten, ob vorrangig Sonne oder Schatten in diesem Bereich herrscht, da bei letzterem mit rascher Vermoosung gerechnet werden muss. Solange dies nur in den Fugen passiert, ist es noch schön, trägt man es aber unter den Sohlen mit ins Haus, kann es böse Verfärbungen auf den hier wesentlich empfindlicheren Materialien geben. Chemische Moos-Bekämpfung ist hier nicht die Alternative, da sie die Chemikalien ebenfalls ins Haus tragen. Die Alternative heißt schlicht und einfach: Schrubben. Auch möglicher Laubabwurf mit entsprechenden Folgen bei Regen müssen bei einer Pflanzung von Bäumen am Wegesrand bedacht werden. Kleinkronige Bäume halten nicht nur diesen in natürlichen Grenzen, sondern auch eine mögliche Verschattung, womit wir wieder beim Moos wären. Ist die Vorgartenfläche zu klein für all die blühenden Vorstellungen, kann die Einbeziehung der Fassade Abhilfe schaffen. Auch in der Anfangszeit mit wenig Bewuchs bereits schön gearbeitete Rankgerüste verlängern den Vorgarten quasi in die Vertikale. Wichtig dabei ist ein genügender Abstand nicht nur zur Fassade, sondern auch zu Fenstern und Türen. Derartige Hilfsgerüste können bei entsprechender Gestaltung durchaus auch zu einer gelungenen Gesamtstruktur beitragen. Überhaupt ist es für die Anlage des Vorgartens wichtig, sich immer zu vergegenwärtigen, dass der Hauszugang das gesamte Jahr über einladend und attraktiv wirken sollte. Abwechslungsreich und immer wieder interessant gelingt dies bei Beachtung der jeweils unterschiedlichen Zeiten von Blüten, Früchten und Laubfärbung. Die oft notwendige Erfüllung funktioneller Anforderungen wie Mülltonnenplatz oder zum Beispiel Fahrradunterstand sind weitaus schwieriger zu meistern. Beides sollte nah am Haus gelegen sein, aber die angestrebte, einladende Optik nicht beeinträchtigen. Ganze Bücher sind über diesen ästhetischen Zwiespalt bereits geschrieben worden. Ein Patentrezept jedoch gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort, die persönlichen Anforderungen und Ansprüche, aber auch die städtebaulichen Vorgaben. Hier gilt es, seine ganz individuelle Quintessenz aus all den schlauen Ratschlägen zu bilden. Graue Plastikverschläge mit Holzmaserung und angedeuteten Türscharnieren sind jedoch auf keinen Fall eine Option, da das störende Mülltonnenplastik nicht mit anderem Plastik wirkungsvoll kaschiert werden kann. Um die dunkelgrauen Ungetüme mit ihren leuchtend-bunten Deckeln zu verbergen sind Holzverschläge, die witterungsbedingt mit der Zeit natürliche Patina ansetzen, sicherlich die bessere Wahl, zumal diese nach Belieben auch berankt werden können. Die neue Ästhetik der steingefüllten Gabione ist auch nur dann harmonisch, wenn die Kieselfüllung in Form und Farbe nicht künstlich und somit fremdkörperhaft aussieht. Eine Bestückung mit polygonalen, nicht zu kleinen Bruchsteinen aus heimischem Abbau, die in anderer Bearbeitung vielleicht auch als Trittpfade in den Beeten oder als geschichtete Trockenmauern im Vorgarten ihre Verwendung finden, lassen einen durchgehenden Faden erkennen, der das Auge beruhigt und wirklich ablenkt. Einmal gut überlegt und sinnvoll angelegt ist ein bepflanzter Vorgarten auf Dauer ein nicht nur optischer Gewinn für viele Seiten. Und bevor weitere Kommunen die Notbremse ziehen und Kiesgruben vor den Häusern verbieten, was ja auch mit Kosten zur Überwachung der Einhaltung zu Lasten des Steuerzahlers verbunden wäre, sollten alle betroffenen Hauseigentümer von sich aus ihren Vorgarten prüfend unter die Lupe nehmen und sich von ihren Schotterpisten trennen. Es ist an der Zeit.

Text: Rainer Güntermann
Fotos: Volker Michael | „Vorgärten – Das große Ideenbuch“ | www.bjvv.de, Rheingrün