Wohnen mit Möbelklassikern

Wohnen mit Möbelklassikern

We call it a Klassiker – nicht nur Franz Beckenbauer weiß Bescheid. Kaum ein Möbelhaus mit Qualitätsanspruch kommt an ihnen vorbei. Will ein Kunde auf Nummer sicher gehen bezüglich Design und Erkennungswert bei Gästen, wählt er gern ein Möbel, welches diesem Selbstverständnis entspricht. Möchte man dennoch eine individuelle, unverwechselbare Note bei der Möblierung mit Möbel-Klassikern einbringen, sind Vintage-Exemplare mit gern auch sichtbarer Vergangenheit das viel zitierte i-Tüpfelchen der Gesamteinrichtung.

 

Klassiker heißen Klassiker, weil sie nie richtig aus der Mode gekommen sind, alle Trends der Zwischenzeit überlebt haben und immer gut kombinierbar sind, obwohl oder auch weil sie Solitäre sind. Kein Möbel wird direkt als Klassiker entworfen oder mit dem Ziel gebaut, ein Klassiker zu werden, aber wenn der Entwurf sich als typisch für den jeweiligen Zeitgeist herausstellt und revolutionär neu ist, stehen die Chancen nicht schlecht, diese Laufbahn einzuschlagen. Oft gelten derartige Stücke zunächst als Mauerblümchen, weil sie –noch- nicht verstanden werden. Aber der Geist des Entwurfes überlebt und überzeugt mit der Zeit, weil er als Synonym für eine Epoche wahrgenommen wird. „Normale“ Möbelentwürfe bedienen nur den aktuellen, flüchtigen Einrichtungsgeschmack und verschwinden auch wieder mit ihm. Es gibt Möbel, die nahtlos diesen Übergang schaffen, andere werden oft in einem neuen Zeitgeist wiederentdeckt und sodann in den „Club“ aufgenommen.

Viele Klassiker wurden für den Massenmarkt entworfen

Grand Confort von Le Corbusier

Die Liste dieser Klassiker wird immer länger, da viele Hersteller, die im Besitz bestimmter Nachbau-Lizenzen sind, diese inzwischen variieren, ohne den Entwurf selbst zu verändern. Allein durch alternative Farben und Materialien entstehen gänzlich neue Aussagen. Auch dadurch besteht für den Käufer die Möglichkeit, eine persönliche Geschmacksnote in seine Einrichtung zu bringen.
Viele Klassiker wurden eigentlich für den Massenmarkt entworfen wie andere Möbel auch, wie zum Beispiel der Side Chair von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1950. Andere waren Bestandteil eines Gesamtkonzeptes für ein neues Gebäude, so der Barcelona-Sessel, entworfen vom gebürtigen Aachener Mies van der Rohe für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1929, der erst später in großer Stückzahl produziert wurde. Auffällig ist, dass viele heute beliebte Möbelklassiker aus der jeweils ersten Dekade nach den beiden Weltkriegen stammen. Allgemeine Ressourcenknappheit und Aufbruchstimmung führten damals zu klaren, im Wortsinn un-modischen Entwürfen, nämlich sparsam im Materialeinsatz, aussagekräftig in der Form, neuartig in der Herstellung und oft auch mutig in der Farbgestaltung. Das kompromissloseste Beispiel hierfür ist wohl der 1918 von Gerrit Rietveld entworfene Rood-en-Blauw-Sessel, ein Tabubruch auf der ganzen Linie in Form, Material und Farbe. Aber auch der Wassily-Sessel von Marcel Breuer aus dem Jahr 1925, der Fauteuil Grand Confort, besser bekannt als Sesselkubus, von Le Corbusier 1928 entworfen und der Edelstahl-Freischwinger-Stuhl S33 von Mart Stam aus dem Jahr 1926 gehören dazu.

Der Stuhl überhaupt gilt als die Herausforderung für den Entwerfenden

Ameisen-Stuhl von Arne Jacobsen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem skandinavische Designer, die für innovative Möbel-Revolutionen sorgten. Der Finne Eero Saarinen 1956 mit seinem einbeinigen Tulpenfuß- Tisch 173 mit Marmorplatte, bereits 1949 der Schwede Nisse Strinning mit dem Hängeregalsystem String (Bild auf der rechten Seite) und 1952 Arne Jacobsen aus Dänemark mit seinem dreibeinigen Ameisen-Stuhl 3100. Dabei gilt überhaupt der Stuhl als die Herausforderung für den Entwerfenden, sei er Designer, Architekt oder Handwerker. Ästhetisch für das Auge, sinnlich in der Haptik und gleichzeitig und vor allen Dingen bequem für den Besitzenden. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es den Stuhl als Massenprodukt. Bis dahin wurden Stühle als handwerkliche Einzelstücke gefertigt. Michael Thonet aus Boppard gelang 1859 mit einem dampfgebogenen Buchenholz-Stuhl für ein Wiener Kaffeehaus der Durchbruch. Sein Verfahren revolutionierte den Möbelbau, auch weil er die Produktion dahin verlagerte, wo das Material herkam, nahe den riesigen Buchenholzwäldern im damaligen Mähren. Bis 1930 wurden allein von dem allseits als Kaffeehausstuhl bekannten Modell 14 mit den Doppelbögen als Rückenlehne mehr als 30 Millionen Exemplare gefertigt.

Spannende Italiener die schon vor der Memphis-Bewegung nachhaltig kreativ waren

Bogenleuchte Arco

Bei der Beschäftigung mit dem Thema Möbelklassiker ist man erstaunt, wie vielfältig und facettenreich diese „Einrichtungsecke“ ist. Sie besteht nämlich nicht nur aus dem allgegenwärtigen Lounge-Chair von Charles und Ray Eames und daneben dem Beistelltisch aus Chrom und Glas von Eileen Gray. Spannender, weil nicht so „kenn’ ich – hab’ ich“ sind viele „Italiener“, die auch schon vor der Mailänder Memphis-Bewegung der 80er Jahre und vielleicht im Gegensatz zu ihr nachhaltig kreativ waren. Gio Ponti reduzierte mit seinem 1957 entworfenen Superleggera den Stuhl auf sein Wesentliches, ohne Effekthascherei, bequem, leicht, angenehm. Das Sofabett oder Bettsofa Anfibio von Alessandro Becchi aus dem Jahr 1970 stellt keinen Kompromiss zwischen beiden Möbeln dar, sondern ist beides pur. Gino Sarfatti brachte 1952 mit dem Modell 2097/30 den Inbegriff eines modernen Kronleuchters auf den Markt. Dies war die Initialzündung für eine ganze Reihe von Lampenentwürfen italienischer Kreativer. Als Beispiele seien genannt die Bogenleuchte Arco mit Marmorfuß von Achille und Pier Giacomo Castiglioni aus dem Jahr 1962, die Deckenleuchte Bolla, 1965 von Elio Martinelli entworfen und 1967 die Tischleuchte Pipistrello von Gae Aulenti, eine der wenigen weiblichen Vertreterinnen der Designer-Zunft.

Einrichtungsgegenstände individuell kombinieren dann ist optische spannung garantiert

Vielen heutigen Klassikern ist gemein, dass sie aufgrund immer neuer Techniken und Materialien die Formgebung minimiert haben, um die jeweiligen Möbel auf den jeweiligen Zweck zu fokussieren, Schlagwörter hierzu sind „Form follows function“ und „Less is more“. Da heutzutage aber zum Beispiel auf dem Leuchtensektor durch LED-Technik diese Prämisse zu extrem winzigen Objekten führen würde, die gar nicht mehr als Einrichtungsgegenstand wahrgenommen würden, erleben wir zur Zeit nicht nur auf diesem Gebiet eine Gegenbewegung hin zu wieder opulenteren Hüllen, zu materialintensiveren Entwürfen, die herstellungstechnisch nicht notwendig sind, aber das Möbel wieder bemerkbar ins Licht rücken. Auch bei Sitzmöbeln „darf wieder gewohnt“ werden, ist man nicht mehr Statist in einer Möbelinszenierung. Nach wie vor aber besteht die Kunst darin, Einrichtungsgegenstände individuell zu kombinieren, seinen persönlichen Wohnstil zu finden. Nicht die Adaption gängiger Schaufenster-Ensembles von Klassiker-Nachbauten, sondern das Einfügen „visuell unverbrauchter“ Möbelstücke ergeben ein unverwechselbares Ambiente. Oder aber man findet Original-Klassiker mit Patina und eigener Geschichte, dann ist optische Spannung garantiert.

TEXT: RAINER GÜNTERMANN
FOTOS: Vitra, Thonet, Cassina