Zimmermann´s brillen-werk

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Umnutzungen von Industrie-Architektur sind zumeist spannend, aber nicht immer stimmig. Ein positives Beispiel dieser Verwandlung ist jedoch die ehemalige Straßenbahnstation im Stolberger Stadtteil Vicht, die ohne augenfällige Einschnitte in die vorhandene Substanz zu einem Werkstatt-Atelier eines weit über die Region bekannten Brillen-Herstellers umgebaut worden ist. Handwerk und Maschinen, Technik und Atmosphäre sind hier gekonnt miteinander kombiniert worden. Sehen Sie selbst!

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Heute besteht der Verkehrsknotenpunkt Stolberg-Vicht aus einem Auto-Kreisverkehr, aber nur 100 Meter entfernt in Richtung Mausbach steht ein architektonisches Zeugnis aus der Zeit, als der Straßenbahn-Haltepunkt Vicht-Dreieck das mobile Zentrum war. Doch zunächst ein kurzer historischer Abriss der Straßenbahngeschichte im Grenzland: Seit 1880 verkehrte in Aachen eine Pferdebahn, da die Pferdekutschen den Personentransport zwischen den damals boomenden Kurbetrieben nicht mehr bewältigen konnten. Betrieben wurde sie von der Aachener- und Burtscheider Pferdeeisenbahn-Gesellschaft, deren Streckennetz immer weiter ausgebaut wurde. Bereits ein Jahr später wurde eine Verbindung zwischen Stolberg-Bahnhof und Stolberg-Hammer aufgenommen. Aufgrund der topografischen Schwierigkeiten –in Aachen mussten stets zwei Pferde einen Wagon ziehen- gab es aber große Lücken zwischen einzelnen Abschnitten. Daher wurde seit 1892 intensiv die Elektrifizierung bestehender und neuer Strecken vorangetrieben. Die Gleise wurden von breiten Normal- in Meter-Spuren umgebaut, was engere Kurve
n ermöglichte und gleichzeitig wegen des geringeren Platzbedarfs kostengünstiger war. 1894 wurde die Betreibergesellschaft in Aachener Kleinbahn-Gesellschaft, AKG, umbenannt, und ein Jahr später begann man mit dem Bau von Ober- und Speiseleitungen. Als letzte Linie wurde die Stolberger Pferdebahn 1897 elektrifiziert. Wiederum ein Jahr später wurde das Stolberger Streckennetz von Eschweiler bis nach Vicht ausgeweitet. Dazu wurde am neuen Haltepunkt Stolberg-Vicht zunächst ein elektrisches Umspannwerk gebaut und nur kurze Zeit später direkt daran auch ein großes Haus für Dienstwohnungen mit Anklängen an den deutschen, geradlinigen Jugendstil. Häufig wurden damals den Personnaechsterhalt-l-625enwagen auch noch Güterwagen angehängt, um auf den Strecken liegenden Großunternehmen wie Zechen, Ziegeleien und Sandgruben den Transport zu erleichtern. Auch sogenannte Postbeiwagen gab es. 1909 wurde noch ein weit
erer Streckenabschnitt zwischen Eschweiler und Vicht über Gressenich eröffnet. Im Jahre 1942 ging die AKG in die neu gegründete Aachener Straßenbahn- und Energieversorgungs-AG, ASEAG, über. Zwei Jahre später wurde der Streckenabschnitt über Gressenich fast komplett zerstört und erst 1951 in voller Länge zwischen Eschweiler-Rathaus und Vicht-Dreieck wiederhergestellt. Bereits drei Jahre später jedoch wurde der Betrieb dieser Linie endgültig eingestellt und ab Ende 1958 die Strecke abgetragen. Das markante Haus am Haltepunkt Vicht-Dreieck mit Dienstwohnungen und angegliedertem Umspanwerk wurde fortan nur noch als Vermietungsobjekt genutzt. Die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke Essen, später kurz RWE, welche inzwischen Eigentümer der Immobilie waren, verkauften es 1994 komplett an eine Steuerberater-Kanzlei, die für ihre Zwecke auch das Umspannwerk umbaute, nach Fertigstellung diesen Teil aber ein Jahr später bereits an Privat verkaufte. Wiederum zwei Jahre danach erwarb dann der Optiker-Meister Markus Zimmermann aus Stolberg das alte Umspannwerk zu Wohnzwecken für seine Familie. Das Haupthaus hingegen ging 2011 in den Besitz einer Kaffeerösterei über. Als sich im Jahr 2014 die Gelegenheit bot, auch dieses große Stationshaus zu erwerben, schlugen Markus Zimmermann und seine Frau Conny zu, um ihren Traum zu verwirklichen (siehe Interview). Wie so oft ist es auch in diesem Fall der Empathie und dem Engagement von Privatpersonen und Kleinunternehmen zu verdanken, dass derartige Kleinode der Architektur nicht nur erhalten bleiben, sondern mit großem Einfühlungsvermögen und nicht minder großer finanzieller Energie behutsam und art – gerecht neuen Nutzungen zugeführt werden, auch an vielleicht auf den ersten Blick nicht augenscheinlich prägnanten Orten. Wer aufmerksam und sensibel durch die Lande reist, kann auch mit nicht-fachmännischen Augen sehr oft derlei sehenswerte Objekte entdecken, manchmal auch erst auf den zweiten Blick. Leider trifft man aber auch genauso oft auf vergessene Perlen und Juwelen der Architektur, die noch nicht von einem Liebhaber wachgeküsst worden sind, weil sie vermeintlich hinsichtlich Lage, baulicher Gegebenheit, häufig jedoch auch wegen starrer Bürokratie-Steilvorlagen unattraktiv sind. Die Straßenbahnstation Stolberg-Vicht-Dreieck mit den jetzigen Eigentümern und der neuen Nutzung zeigt aber einmal mehr, dass alles überall möglich ist. Das beweist das Brillen-Werk, das inzwischen weit über die Grenzen Aachens und auch des Landes hinweg seine Kundschaft akquiriert. Bei unserem Besuch der Brillenmanufaktur stand uns Markus Zimmermann für ein kurzes Interview zur Verfügung.

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Herr Zimmermann, war solch ein technisches Gebäude immer Ihr Wunsch auf der Suche nach Räumlichkeiten für Ihre Manufaktur?
„Brillen-Werk“ war der ursprüngliche Gedanke. Einen Ort markieren, in dem namentlich 25 Jahre der Entwicklung, Erfahrung und Errungenschaften in Augenoptik, Design und Manufaktur stecken. Von innen wie nach außen, alles unter Dach und Fach zu nehmen brauchte inspirierenden Raum und Gestaltungs-Optionen für eine Brillenkultur mit Alleinstellungsmerkmal. Ich hatte immer schon eine Vorliebe für altgediente Werkshallen und archaische Industriebauten mit dem morbiden Charme eines geplagten Alltagslebens. Eine solch raumgreifende Zweckgestaltung schafft Platz für die eigenen Stilaspekte, Ideen im Ausbau wie bei der Einrichtung mit selbstentworfenen Möbeln und ausreichend Raum für repräsentative Manufaktur- und Eventveranstaltungen. Für diese Fantasien brauchte es dann erheblich mehr, als es ein mustergültiges Ladenlokal in Art und Größe aufzubieten hätte. Dieses trat dann unerwartet in Form einer Offerte für die Straßenbahnstation Vicht-Dreieck auf den Plan. Mit dem Hauptgebäude waren wir gedanklich immer schon umtriebig, denn wir wohnen schon seit 19 Jahren Wand an Wand im architektonisch dazugehörigen, ehemaligen Umspannwerk.

Hatten Sie beim ersten Rundgang durch die Immobilie direkt die jetzige Aufgliederung von Werkstatt und Wohnung vor Augen, oder haben Sie mit den baulichen Gegebenheiten der alten Straßenbahnstation gedanklich kämpfen müssen?
Die zuvor in den Räumlichkeiten betriebene Kaffee-Rösterei hatte bereits für Grund und Strukturen gesorgt, die unserer Vorstellung von Raum- und Gestaltungskonzept in die Hände spielten. Einiges blieb aber dann doch noch zu tun, um räumliche Trennungen aufzuheben und den historischen Industriecharakter mit der gesamten Ausstaffierung eines augenoptischen Betriebes und dem Interieur einer Manufaktur stilkonform unter einen Hut zu bringen. Fließend und offen sollten im Wechselspiel Werkstatt, Manufaktur, Ausstellungs- und Untersuchungsraum den Kunden einladen und die Entdeckung zum Erlebnis machen.

Wohnen und Arbeiten unter einem Dach – ist das Fluch oder Segen?
Für mich bedeutet Arbeitszeit gleich Lebenszeit und alles unter Dach und Fach erst recht Segen.

Als kreativen Geburtsort für Ihre individuellen Brillenentwürfe vermutet man eigentlich ein Szeneviertel in irgendeiner Großstadt. Ist es nicht ein bisschen sehr ruhig hier draußen? Der Input zur kreativen Umsetzung einer Idee hat etwas mit der Persönlichkeit und den Stilaspekten der Menschen zu tun, die mich umgeben, inspirieren und repräsentativ als Pate für meine Entwürfe stehen. Mein persönliches Umfeld und auch die Kundschaft selbst liefern mir ausreichend ideelle und materielle Nährstoffe, ohne dass es eines hektischen Szenebetriebs mit all seinen Chancen, aber auch Risiken bedarf. Natürlich bedeutet dies auch, dass man etwas für seine Kunden und die, die es werden sollen, tun muss. Maßnahmen wie Event- und Präsentationsveranstaltungen steigern die Aufmerksamkeit und den Bekanntheitsgrad und sind Teil eines strategischen Marketingplans, der auch Crossmarketing-Aktivitäten über das Internet und dergleichen beinhaltet. Ziel ist es, dem affinen Kunden von morgen ein möglichst authentisches Bild von sich und seinen Spezialitäten zu zeigen und Begehrlichkeiten zu wecken, so dass der Weg hierher in freudiger Erwartung nur noch Formsache ist.

Gibt es keine Schwellenangst bei potentiellen Neukunden, wenn Sie vor dem Industriegebäude stehen und kein Schaufenster im herkömmlichen Sinne vorfinden? Natürlich war das auch eine der Herausforderungen, denen sich maßgeblich meine Frau mit Bravour stellte. Sie setzte mit ihrer pragmatischen Empfindsamkeit für Auge und Ästhetik planerisch die entscheidenden Mittel in Bewegung, um jeden Besucher für die einladende, hauseigene Botschaft des Brillen-Werks empfänglich und neugierig zu machen. Zur Kenntlichmachung und Kundeninformation wurden dem Haus charakterkonform Stelen in Form von U-Eisenträgern mit Holzbohlen angepasst und anstelle einer herkömmlichen Werbeanlage eine Wandmalerei im Anklang an historische Bahnhofsbeschriftungen ausgeführt. Emailleschilder komplettieren die Hardware des Außenensembles.

Entstehen Ihre Brillenentwürfe intuitiv ohne Anlass, oder gehen Sie immer erst nach einem konkreten Kundenauftrag ans kreative Werk?
Für den kreativen Anstoß eines neuen Entwurfs gibt es konkrete wie spontane Anlässe. Tatsächlich neige ich dazu, stilistische Details und technische Elemente impulsiv in Ideen zu abstrahieren, die dann als skizzenhafter Entwurf Form in Gestalt und Kontur annehmen. Ein Kundenauftrag dagegen stellt an den Erstentwurf konkrete Rahmenbedingungen und eine systematische Vorgehensweise. Die gewünschten Stil- und Formaspekte müssen erst einmal mit den anatomischen Gesichtspunkten, den Proportionen und Größenverhältnissen der Kunden abgeglichen werden. Erst dann kann ein Referenzmodell in passgenauer Form Gestalt annehmen und mittels einer Computersimulation den weiteren Kreativprozess mit dem Kunden in Gang setzen.

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Gibt es einen sogenannten Ideenpool, in dem Sie immer fündig werden?
Mittlerweile hat sich ein reichhaltiger Fundus an potentiellen Modellkreationen, Teil-Werken, Designansätzen und Prototypen angesammelt, die anwendungsbereit für den jeweiligen Einsatz in der Reserve schlummern.

Ihre Lieblingsmaterialien beim Brillenhandwerk sind?
Jedes Material hat seinem Naturell nach das besondere Etwas. Büffelhorn legt beispielsweise besonderen Wert auf eine behutsame Behandlung während der Bearbeitung, die den handwerklichen Umgang reiz- und anspruchsvoll macht. Dem Acetat ist seine Vielseitigkeit in Farbkompositionen, Texturen und Sandwichaufbauten zu eigen und bietet der Gestaltung durch seine plastischen Eigenschaften alle künstlerischen Freiheiten. Der Umgang mit Holz bereitet mir haptisch einfach Vergnügen. Die jeweiligen Furnierarten mit ihren jeweiligen Prägungen bei der Anlage des Schichtaufbaus eines Rohlings zu kombinieren ist immer wieder spannend.

Gab es einen bestimmten Anlass, der Sie veranlasste, dieses Handwerk zu ergreifen?
Mein Schlüsselerlebnis hatte ich bereits in jungen Jahren, als im Ausscheidungskampf um eine Lehrstelle während eines Praktikums mein schlummerndes Talent bei der händischen Fertigung einer Lupe zu Tage trat – die Lehrstelle war mir sicher, und alles Weitere nahm seinen Lauf.
Gibt es Pläne für weitere Baumaßnahmen am Industriedenkmal?
Ein Maßnahme läuft zur Zeit, nämlich dem potentiellen Kunden die gesamte Entstehung seiner handgefertigten Unikat-Maßbrille auf eine ganz persönliche Art und Weise vor Augen zu führen und unvergesslich zu machen. Die räumlichen Renovierungsarbeiten der ehemaligen Dienstwohnung des Hauses werden in Kürze abgeschlossen sein. Sie bietet dann ein Quartier der Behaglichkeit, die dem Kunden für ein ganzes Wochenende die Gelegenheit des Aufenthaltes und der Mitwirkung an der kreativen Entwicklung seiner Manufaktur-Brille bietet, also im wahren Wortsinn dem Beiwohnen des handwerklichen Entstehungsprozesses vor Ort. Dies alles am Tor zur Voreifel in Stolberg-Vicht, also lohnenswert in mehrerlei Hinsicht.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Zimmermann!

TEXT: Rainer Güntermann
FOTOS: Zimmermann´s brillen-werk