Zimmermann´s brillen-werk

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Umnutzungen von Industrie-Architektur sind zumeist spannend, aber nicht immer stimmig. Ein positives Beispiel dieser Verwandlung ist jedoch die ehemalige Straßenbahnstation im Stolberger Stadtteil Vicht, die ohne augenfällige Einschnitte in die vorhandene Substanz zu einem Werkstatt-Atelier eines weit über die Region bekannten Brillen-Herstellers umgebaut worden ist. Handwerk und Maschinen, Technik und Atmosphäre sind hier gekonnt miteinander kombiniert worden. Sehen Sie selbst!

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Heute besteht der Verkehrsknotenpunkt Stolberg-Vicht aus einem Auto-Kreisverkehr, aber nur 100 Meter entfernt in Richtung Mausbach steht ein architektonisches Zeugnis aus der Zeit, als der Straßenbahn-Haltepunkt Vicht-Dreieck das mobile Zentrum war. Doch zunächst ein kurzer historischer Abriss der Straßenbahngeschichte im Grenzland: Seit 1880 verkehrte in Aachen eine Pferdebahn, da die Pferdekutschen den Personentransport zwischen den damals boomenden Kurbetrieben nicht mehr bewältigen konnten. Betrieben wurde sie von der Aachener- und Burtscheider Pferdeeisenbahn-Gesellschaft, deren Streckennetz immer weiter ausgebaut wurde. Bereits ein Jahr später wurde eine Verbindung zwischen Stolberg-Bahnhof und Stolberg-Hammer aufgenommen. Aufgrund der topografischen Schwierigkeiten –in Aachen mussten stets zwei Pferde einen Wagon ziehen- gab es aber große Lücken zwischen einzelnen Abschnitten. Daher wurde seit 1892 intensiv die Elektrifizierung bestehender und neuer Strecken vorangetrieben. Die Gleise wurden von breiten Normal- in Meter-Spuren umgebaut, was engere Kurve
n ermöglichte und gleichzeitig wegen des geringeren Platzbedarfs kostengünstiger war. 1894 wurde die Betreibergesellschaft in Aachener Kleinbahn-Gesellschaft, AKG, umbenannt, und ein Jahr später begann man mit dem Bau von Ober- und Speiseleitungen. Als letzte Linie wurde die Stolberger Pferdebahn 1897 elektrifiziert. Wiederum ein Jahr später wurde das Stolberger Streckennetz von Eschweiler bis nach Vicht ausgeweitet. Dazu wurde am neuen Haltepunkt Stolberg-Vicht zunächst ein elektrisches Umspannwerk gebaut und nur kurze Zeit später direkt daran auch ein großes Haus für Dienstwohnungen mit Anklängen an den deutschen, geradlinigen Jugendstil. Häufig wurden damals den Personnaechsterhalt-l-625enwagen auch noch Güterwagen angehängt, um auf den Strecken liegenden Großunternehmen wie Zechen, Ziegeleien und Sandgruben den Transport zu erleichtern. Auch sogenannte Postbeiwagen gab es. 1909 wurde noch ein weit
erer Streckenabschnitt zwischen Eschweiler und Vicht über Gressenich eröffnet. Im Jahre 1942 ging die AKG in die neu gegründete Aachener Straßenbahn- und Energieversorgungs-AG, ASEAG, über. Zwei Jahre später wurde der Streckenabschnitt über Gressenich fast komplett zerstört und erst 1951 in voller Länge zwischen Eschweiler-Rathaus und Vicht-Dreieck wiederhergestellt. Bereits drei Jahre später jedoch wurde der Betrieb dieser Linie endgültig eingestellt und ab Ende 1958 die Strecke abgetragen. Das markante Haus am Haltepunkt Vicht-Dreieck mit Dienstwohnungen und angegliedertem Umspanwerk wurde fortan nur noch als Vermietungsobjekt genutzt. Die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke Essen, später kurz RWE, welche inzwischen Eigentümer der Immobilie waren, verkauften es 1994 komplett an eine Steuerberater-Kanzlei, die für ihre Zwecke auch das Umspannwerk umbaute, nach Fertigstellung diesen Teil aber ein Jahr später bereits an Privat verkaufte. Wiederum zwei Jahre danach erwarb dann der Optiker-Meister Markus Zimmermann aus Stolberg das alte Umspannwerk zu Wohnzwecken für seine Familie. Das Haupthaus hingegen ging 2011 in den Besitz einer Kaffeerösterei über. Als sich im Jahr 2014 die Gelegenheit bot, auch dieses große Stationshaus zu erwerben, schlugen Markus Zimmermann und seine Frau Conny zu, um ihren Traum zu verwirklichen (siehe Interview). Wie so oft ist es auch in diesem Fall der Empathie und dem Engagement von Privatpersonen und Kleinunternehmen zu verdanken, dass derartige Kleinode der Architektur nicht nur erhalten bleiben, sondern mit großem Einfühlungsvermögen und nicht minder großer finanzieller Energie behutsam und art – gerecht neuen Nutzungen zugeführt werden, auch an vielleicht auf den ersten Blick nicht augenscheinlich prägnanten Orten. Wer aufmerksam und sensibel durch die Lande reist, kann auch mit nicht-fachmännischen Augen sehr oft derlei sehenswerte Objekte entdecken, manchmal auch erst auf den zweiten Blick. Leider trifft man aber auch genauso oft auf vergessene Perlen und Juwelen der Architektur, die noch nicht von einem Liebhaber wachgeküsst worden sind, weil sie vermeintlich hinsichtlich Lage, baulicher Gegebenheit, häufig jedoch auch wegen starrer Bürokratie-Steilvorlagen unattraktiv sind. Die Straßenbahnstation Stolberg-Vicht-Dreieck mit den jetzigen Eigentümern und der neuen Nutzung zeigt aber einmal mehr, dass alles überall möglich ist. Das beweist das Brillen-Werk, das inzwischen weit über die Grenzen Aachens und auch des Landes hinweg seine Kundschaft akquiriert. Bei unserem Besuch der Brillenmanufaktur stand uns Markus Zimmermann für ein kurzes Interview zur Verfügung.

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Herr Zimmermann, war solch ein technisches Gebäude immer Ihr Wunsch auf der Suche nach Räumlichkeiten für Ihre Manufaktur?
„Brillen-Werk“ war der ursprüngliche Gedanke. Einen Ort markieren, in dem namentlich 25 Jahre der Entwicklung, Erfahrung und Errungenschaften in Augenoptik, Design und Manufaktur stecken. Von innen wie nach außen, alles unter Dach und Fach zu nehmen brauchte inspirierenden Raum und Gestaltungs-Optionen für eine Brillenkultur mit Alleinstellungsmerkmal. Ich hatte immer schon eine Vorliebe für altgediente Werkshallen und archaische Industriebauten mit dem morbiden Charme eines geplagten Alltagslebens. Eine solch raumgreifende Zweckgestaltung schafft Platz für die eigenen Stilaspekte, Ideen im Ausbau wie bei der Einrichtung mit selbstentworfenen Möbeln und ausreichend Raum für repräsentative Manufaktur- und Eventveranstaltungen. Für diese Fantasien brauchte es dann erheblich mehr, als es ein mustergültiges Ladenlokal in Art und Größe aufzubieten hätte. Dieses trat dann unerwartet in Form einer Offerte für die Straßenbahnstation Vicht-Dreieck auf den Plan. Mit dem Hauptgebäude waren wir gedanklich immer schon umtriebig, denn wir wohnen schon seit 19 Jahren Wand an Wand im architektonisch dazugehörigen, ehemaligen Umspannwerk.

Hatten Sie beim ersten Rundgang durch die Immobilie direkt die jetzige Aufgliederung von Werkstatt und Wohnung vor Augen, oder haben Sie mit den baulichen Gegebenheiten der alten Straßenbahnstation gedanklich kämpfen müssen?
Die zuvor in den Räumlichkeiten betriebene Kaffee-Rösterei hatte bereits für Grund und Strukturen gesorgt, die unserer Vorstellung von Raum- und Gestaltungskonzept in die Hände spielten. Einiges blieb aber dann doch noch zu tun, um räumliche Trennungen aufzuheben und den historischen Industriecharakter mit der gesamten Ausstaffierung eines augenoptischen Betriebes und dem Interieur einer Manufaktur stilkonform unter einen Hut zu bringen. Fließend und offen sollten im Wechselspiel Werkstatt, Manufaktur, Ausstellungs- und Untersuchungsraum den Kunden einladen und die Entdeckung zum Erlebnis machen.

Wohnen und Arbeiten unter einem Dach – ist das Fluch oder Segen?
Für mich bedeutet Arbeitszeit gleich Lebenszeit und alles unter Dach und Fach erst recht Segen.

Als kreativen Geburtsort für Ihre individuellen Brillenentwürfe vermutet man eigentlich ein Szeneviertel in irgendeiner Großstadt. Ist es nicht ein bisschen sehr ruhig hier draußen? Der Input zur kreativen Umsetzung einer Idee hat etwas mit der Persönlichkeit und den Stilaspekten der Menschen zu tun, die mich umgeben, inspirieren und repräsentativ als Pate für meine Entwürfe stehen. Mein persönliches Umfeld und auch die Kundschaft selbst liefern mir ausreichend ideelle und materielle Nährstoffe, ohne dass es eines hektischen Szenebetriebs mit all seinen Chancen, aber auch Risiken bedarf. Natürlich bedeutet dies auch, dass man etwas für seine Kunden und die, die es werden sollen, tun muss. Maßnahmen wie Event- und Präsentationsveranstaltungen steigern die Aufmerksamkeit und den Bekanntheitsgrad und sind Teil eines strategischen Marketingplans, der auch Crossmarketing-Aktivitäten über das Internet und dergleichen beinhaltet. Ziel ist es, dem affinen Kunden von morgen ein möglichst authentisches Bild von sich und seinen Spezialitäten zu zeigen und Begehrlichkeiten zu wecken, so dass der Weg hierher in freudiger Erwartung nur noch Formsache ist.

Gibt es keine Schwellenangst bei potentiellen Neukunden, wenn Sie vor dem Industriegebäude stehen und kein Schaufenster im herkömmlichen Sinne vorfinden? Natürlich war das auch eine der Herausforderungen, denen sich maßgeblich meine Frau mit Bravour stellte. Sie setzte mit ihrer pragmatischen Empfindsamkeit für Auge und Ästhetik planerisch die entscheidenden Mittel in Bewegung, um jeden Besucher für die einladende, hauseigene Botschaft des Brillen-Werks empfänglich und neugierig zu machen. Zur Kenntlichmachung und Kundeninformation wurden dem Haus charakterkonform Stelen in Form von U-Eisenträgern mit Holzbohlen angepasst und anstelle einer herkömmlichen Werbeanlage eine Wandmalerei im Anklang an historische Bahnhofsbeschriftungen ausgeführt. Emailleschilder komplettieren die Hardware des Außenensembles.

Entstehen Ihre Brillenentwürfe intuitiv ohne Anlass, oder gehen Sie immer erst nach einem konkreten Kundenauftrag ans kreative Werk?
Für den kreativen Anstoß eines neuen Entwurfs gibt es konkrete wie spontane Anlässe. Tatsächlich neige ich dazu, stilistische Details und technische Elemente impulsiv in Ideen zu abstrahieren, die dann als skizzenhafter Entwurf Form in Gestalt und Kontur annehmen. Ein Kundenauftrag dagegen stellt an den Erstentwurf konkrete Rahmenbedingungen und eine systematische Vorgehensweise. Die gewünschten Stil- und Formaspekte müssen erst einmal mit den anatomischen Gesichtspunkten, den Proportionen und Größenverhältnissen der Kunden abgeglichen werden. Erst dann kann ein Referenzmodell in passgenauer Form Gestalt annehmen und mittels einer Computersimulation den weiteren Kreativprozess mit dem Kunden in Gang setzen.

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Gibt es einen sogenannten Ideenpool, in dem Sie immer fündig werden?
Mittlerweile hat sich ein reichhaltiger Fundus an potentiellen Modellkreationen, Teil-Werken, Designansätzen und Prototypen angesammelt, die anwendungsbereit für den jeweiligen Einsatz in der Reserve schlummern.

Ihre Lieblingsmaterialien beim Brillenhandwerk sind?
Jedes Material hat seinem Naturell nach das besondere Etwas. Büffelhorn legt beispielsweise besonderen Wert auf eine behutsame Behandlung während der Bearbeitung, die den handwerklichen Umgang reiz- und anspruchsvoll macht. Dem Acetat ist seine Vielseitigkeit in Farbkompositionen, Texturen und Sandwichaufbauten zu eigen und bietet der Gestaltung durch seine plastischen Eigenschaften alle künstlerischen Freiheiten. Der Umgang mit Holz bereitet mir haptisch einfach Vergnügen. Die jeweiligen Furnierarten mit ihren jeweiligen Prägungen bei der Anlage des Schichtaufbaus eines Rohlings zu kombinieren ist immer wieder spannend.

Gab es einen bestimmten Anlass, der Sie veranlasste, dieses Handwerk zu ergreifen?
Mein Schlüsselerlebnis hatte ich bereits in jungen Jahren, als im Ausscheidungskampf um eine Lehrstelle während eines Praktikums mein schlummerndes Talent bei der händischen Fertigung einer Lupe zu Tage trat – die Lehrstelle war mir sicher, und alles Weitere nahm seinen Lauf.
Gibt es Pläne für weitere Baumaßnahmen am Industriedenkmal?
Ein Maßnahme läuft zur Zeit, nämlich dem potentiellen Kunden die gesamte Entstehung seiner handgefertigten Unikat-Maßbrille auf eine ganz persönliche Art und Weise vor Augen zu führen und unvergesslich zu machen. Die räumlichen Renovierungsarbeiten der ehemaligen Dienstwohnung des Hauses werden in Kürze abgeschlossen sein. Sie bietet dann ein Quartier der Behaglichkeit, die dem Kunden für ein ganzes Wochenende die Gelegenheit des Aufenthaltes und der Mitwirkung an der kreativen Entwicklung seiner Manufaktur-Brille bietet, also im wahren Wortsinn dem Beiwohnen des handwerklichen Entstehungsprozesses vor Ort. Dies alles am Tor zur Voreifel in Stolberg-Vicht, also lohnenswert in mehrerlei Hinsicht.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Zimmermann!

TEXT: Rainer Güntermann
FOTOS: Zimmermann´s brillen-werk

Der Wurst Toaster

 

glosse-36-37Na, auch schon Platz gemacht? In der Küche meine ich, schließlich muss man rechtzeitig Vorsorge treffen für all die innerhalb des letzten Jahres neu auf den Markt gekommenen Must-haves der Elektrogeräte.

Bekommt die weibliche Haushaltshälfte von unverbesserlich einfallslosen Weihnachtsmännern vielleicht noch elektrische Haushaltshilfen in Form von Staubsaugern oder Fensterdampfstrahlern geschenkt, freut sich das emanzipierte männliche Pendant inzwischen für seine sporadischen Herdbesuche über Küchenmaschinen mit einem Telefonbuch-dicken Zusatzgerätekatalog.

All-in-one-Schneidmixkochback-Automaten mit dem Sound einer ebenfalls schon immer gewünschten Harley Davidson oder Aufsatz-Kochfelder mit neuester Hitze-Elektronik, die zwar das 36-teilige Kupferkessel und –pfannen-Set vom letzten Geburtstag unbenutzbar machen, aber ohne diese unabdingbare Innovation kann man(n) halt keine Freunde mehr zum veritablen Steakessen einladen.

Da stehen sie nun ehrfurchteinflößend aufgereiht wie eine einsatz- und angriffswütige Maschinen-Armee.

Bis Ostern darf der neue Elektro-Fuhrpark ja auch noch dichtgedrängt auf der Arbeitsfläche stehen, um gnadenlos täglich benutzt zu werden. Schließlich scheinen nun keine Rezepte mehr ohne ihren unbedingten Einsatz zu einem halbwegs essbaren Ergebnis zu führen. Ist aber dann jeder Ausstattungszusatz schon mehr als dreimal zum Einsatz gekommen, nehmen die top-designten Weihnachtspräsente des Vorjahres fast heimlich und von selbst den Weg in frei gekramte Restflächen der – je nach Gewicht – Ober- oder Unterschränke oder gar Kellerregale. Dort fristen sie ungeachtet ihrer Nutzungsvielfalt dennoch nutzlos ihr dunkles Dasein. Oft platzsparend halb auseinandergebaut und verschachtelt gestapelt, weswegen eine neuerliche Verwendung erst recht in die hinterste Gedankenecke rutscht. Aber allein die Tatsache, zu wissen, dass man dieses oder jenes Gerät im eigenen Ausstattungslagerbestand hat, lässt die Rezeptwahl völlig entspannt angehen. Keine noch so komplexe Vor- oder Zubereitungsart zwingt zum enttäuschten Weiterblättern.

Mögen Profiköche in ihren kleinen Küchen noch mit einer handvoll Messern werkeln, kann der Ausstattungsprofi auf eine Geräte-Armada zurückgreifen, die Mitstreiter vor blitzblankem Neid erblassen lässt. Bleibt nur das kleine Problem, dass, zu wissen, dass man es hat, nicht automatisch heißt, zu wissen, wo man es hat.

Text:Rainer Güntermann

Veröffentlicht unter Glosse

wie man sich bettet, so liegt man
– neue bettgeschichten

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wie man sich bettet, so liegt man – neue bettgeschichten

Wie man sich bettet, so liegt man. Was sich so lapidar anhört, ist im Grunde schon der Schlüssel für einen erholsamen schlaf: die Sorgfältige Auswahl von materialien, die für jeden individuell geeignete matratzenart, die ergonomisch richtige unterlage, die benötigte grösse, das gewünschte aussehen – all dies sollte mit bedacht ausgesucht werden.

Schlaf ist erholsam. Sollte er zumindest sein. Um das sicherzustellen, sollte man sich bei der Wahl des richtigen Bettes Zeit nehmen. Es geht um das Zusammenspiel aus Gestell, Matratze und Lattenrost, das individuell angepasst werden muss. Kurz: Es geht um das richtige System. Und natürlich auch ein bisschen um Design.

Um sich fallen lassen zu können, braucht es Vertrauen. Auch einem Bett gegenüber. Denn manchmal möchte man sich nur noch ins Bett fallen lassen. Oder am Wochenende gar nicht mehr rauskommen.

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Gemütlich sollen Schlafzimmer und speziell Bett natürlich sein, aber Schlaf dient uns in erster Linie zur Regeneration. Körper und Geist erholen sich, wenn wir zur Ruhe kommen, Immunsystem und Stoffwechsel benötigen die regelmäßigen Ruhephasen. Ein Bett, in das wir uns gerne legen und in dem wir gut schlafen, ist damit ein Stück Lebensqualität. Deshalb sollte man sich bei der Suche nach dem passenden Bett Zeit nehmen und vor allem nicht vor dem Probeliegen zurückschrecken. Boxspring, Matratze und Lattenrost oder vielleicht sogar Wasserbett? Nehmen Sie sich ruhig Zeit beim Festlegen.
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Duo oder trio?

Die Wahl des richtigen Bettes beginnt bei der Größe. In der Länge sollte es 20 Zentimeter größer als der Nutzer sein und pro Person einen bis 1,20m breit, da wir im Schlaf sehr häufig die Liegeposition ändern. Hier sind wir schon beim nächsten Punkt: der Matratze. Denn sie garantiert, dass sich die Muskeln optimal entspannen können. Oftmals wird hier das Wasserbett ins Feld geführt, das aber Rückenprobleme sogar noch verschärfen kann. Denn einem Wasserbett fehlt die Punktelastizität, die den Körper ideal abgestimmt unterstützt. Damit ist es nicht das Allheilmittel bei Rückenproblemen, als das es oft angepriesen wird. Das hohe Gewicht, die teuren Anschaffung und Unterhalt – etwa zum Heizen des Wassers – lassen das Wasserbett im Vergleich der Systeme nicht allzu gut aussehen. Hinzu kommt außerdem die mangelhafte Belüftung, die durch unsere Körperfeuchtigkeit notwendig ist. Dazu müsste die Matratze regelmäßig gedreht werden: Im Schlaf verlieren wir schließlich etwa einen halben Liter an Feuchtigkeit, die an Bettdecke und Matratze abgegeben werden.

Der Klassiker ist das Duo aus Matratze und Lattenrost. Je mehr Latten desto besser; außerdem sollten sie in möglichst kleinen Abständen montiert sein, damit man nicht Gefahr läuft, mit der Matratze – und damit dem Rücken – durchzuhängen. Durch die Anordnung der Latten wird eine elastische Lagerung des Schlafenden ermöglicht und dabei die Matratze bei der Entlastung der Wirbelsäule unterstützt. Außerdem liegt die Matratze so auf, dass hier die gleichmäßige Lüftung gewährleistet ist. Üblicherweise ist der Lattenrost aus Holz und Kunststoff gefertigt. Die Matratze selbst gibt es aus verschiedenen Materialien: Latex, Schaumstoff oder Federkern, auch Naturprodukte finden Verwendung. Welches Material das richtige für Sie ist, sollten Sie für sich ausprobieren. Entscheidend bei Matratzen sind die Verarbeitung und die Eigenschaft, punktelastisch zu sein, d.h. die Matratze darf nur dort nachgeben, wo sie belastet ist. So wird sichergestellt, dass sich das Material ideal an die Gegebenheiten des Körpers anschmiegen kann. Schaumstoff macht hier die Bewegungen am besten mit. Welcher Härtegrad benötigt wird, sollte beim Probeliegen getestet werden. Denn diesbezüglich gibt es keine Normung, und verschiedene Anbieter bieten unterschiedliche Härten an. Zwar geben sie oft Richtwerte in Bezug auf das Körpergewicht an, die Körpergröße wird dabei aber oft außer Acht gelassen. Scheuen Sie sich also nicht, eine Matratze ausgiebig zu testen.

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keine scheu vorm probeliegen!

Dazu sollten Sie jemanden dabeihaben, der Ihre Lage auf der Matratze kontrolliert: Passt im Liegen eine Hand zwischen Matratze und Rücken, stimmt die Unterfederung nicht, das Hohlkreuz muss in Rückenlage ausgefüllt sein. In der Seitenlage sollten Schulter und Hüfte genau soweit einsinken, dass die Wirbelsäule eine gerade Linie bildet. Nur wenn Lattenrost und Matratze eine perfekte Einheit ergeben, kann dieses Duo das optimale Schlafsystem bilden.

Als ein System lässt sich auch das Boxspringbett bezeichnen, dass aus mehreren Komponenten besteht: einer Federkernbox, dem Untergestell („Boxspring“), statt eines Lattenrostes, einer Matratze und einem Topper. Das Untergestell ist meist mit Federkern oder Taschenfederkern ausgestattet und steht auf Füßen, die meist nicht höher als 20 Zentimeter sind. So wird die benötigte Luftzirkulation gewährleistet.
Die Matratze, die daraufgelegt wird, muss im Grunde keine besondere sein, sondern lediglich von der Größe her auf die Federkernbox abgestimmt sein. Einige Varianten sehen eine sehr hohe Matratze vor.
Den Abschluss bildet die Topper-Matratze, die nur wenige Zentimeter hoch ist. Hierdurch wird der allgemeine Liegekomfort erhöht und gleichzeitig die Matratze geschont. Topper gibt es ebenfalls in verschiedenen Materialien, auch hier probiert man am besten aus, welches Material das individuell angenehmste ist.

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Kopf- und fussbereiche motorisch einstellbar

Was hier so funktional klingt, lässt sich aber auch in eine ansehnliche Hülle packen. So hat das Traditionsunternehmen WK Wohnen edle Designs wie etwa das Modell Darienne im Portfolio. Vom Kopfteil über den Topper bis zu den Füßen sind hier bei gleichbleibender Funktionalität viele Designs und Ausführungen kombinierbar. Und auch hier sind Kopf- und Fußbereich motorisch und über eine Fernbedienung verstellbar.

Durch den modularen Aufbau erreicht das Boxspringbett oft eine zum Ein- und Aussteigen komfortable Höhe, gerade für ältere Menschen. Allerdings ist in diesem Trio keine den Körper unterstützende Mehrzonen vorgesehen, da es über die gesamte Liegefläche hinweg eine gleichbleibende Unterstützung bieten soll. Auch hier sind eine gute Beratung und ein Probeliegen wichtig, da es keine Normung für die Matratzen und ihre Härtegrade gibt.

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Von klassisch bis hochmodern ist alles realisierbar

Apropos Höhe: sogenannte zukunftssichere Betten, zum Beispiel von Kirchner, sind Modelle mit der Möglichkeit der verstellbaren Höhe. Auch per Fernbedienung kann so die optimale Höhe zum Ein- und Austeigen eingestellt werden. Damit geht Kirchner über die reine Liegefunktionalität hinaus, bietet aber dennoch verschiedene Systeme und individuelle Designs an. Denn Funktionalität und Design müssen sich nicht beißen – erst recht nicht, wenn es um Möbel geht. Eindrucksvoll zeigt das etwa die Firma Luna, die Tische und Bettgestelle aus Massivholz herstellt. Von klassisch bis hochmodern ist alles realisierbar, da sich die Designs immer für das jeweilige System anpassen und umsetzen lassen.

Egal ob Lattenrost und Matratze oder Boxspringbett – für welches Bett Sie sich also entscheiden, hineinfallenlassen sollten Sie sich nur, wenn Sie genau wissen, worauf Sie landen. Dann liegen Sie auch genau richtig.

 

TEXT: Christian Dang-anh

FOTOS: Musterring, Kettnaker, WK Wohnen, Luna

…UNTERWEGS…
Männerkultur-Erlebnis: Barbershop

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…UNTERWEGS…
Männerkultur-Erlebnis: Barbershop

 

Nach den großen Metropolen hält nun auch in Aachen eine neue Männerkultur Einzug: Der Barbier. Nicht mal schnell die Haare schneiden lassen, sondern eine Auszeit nehmen, sich verwöhnen lassen, ein clubgleiches Ambiente genießen, einfach mal wieder Mann sein und den Bart pflegen lassen. Wir haben es genossen.

 

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Da ich keinerlei kostenintensiven Hobbies fröhne, gönne ich mir seit mehr als 20 Jahren bereits den Luxus, mich nicht mehr selbst zu rasieren –mit wenigen Ausnahmen wie Zeitmangel oder Urlaub-, sondern genieße einmal wöchentlich eine Nassrasur bei einem Barbier. Bereits als kleiner Junge sah ich meinem Großvater begeistert zu, wie er das Rasiermesser am Lederriemen wetzte und gekonnt sein Gesicht glättete. Die Generation meines Vaters benutzte dann bereits Wechselklingen, und mit ihnen geriet die hohe Kunst der Klappmesser-Nutzung nicht nur privat in Vergessenheit: Kaum ein Friseur bot noch die Nassrasur an. Spätestes im Zuge der frühen Aids-Hysterie in den 80er Jahren geriet sie unberechtigterweise endgültig in Verruf.

Erst mit der Eröffnung von immer mehr türkischen Salons und der dort praktizierten Selbstverständlichkeit von Haarschnitt und anschließender Rasur erlangte dieses männliche Wohlfühlpaket wieder mehr Aufmerksamkeit, zumal inzwischen auch die klassischen Klappmesser mit Wechselklingen arbeiten und somit weder hygienisch noch gesundheitlich irgendwelche Bedenken rechtfertigen.

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Ist die Rasur „beim Türken“ im wahrsten Sinne des Wortes alltäglich und somit auch schnell & preisgünstig, so sprießen jetzt Herrensalons aus dem Boden, welche die Nassrasur wieder kultivieren und sie vom Zeitaufwand und auch Preisniveau her auf eine Ebene mit einem fachmännischen Haarschnitt heben. Aber jedes gute Handwerk verlangt auch einen angemessenen Stundenlohn, das wird jedoch häufig beim Friseur-(und z.B. auch Floristen-)Handwerk vergessen.

img_8858-2Der neue Barbier besinnt sich wieder auf den Erholungsfaktor einer solchen Behandlung mit heißen und kalten Tüchern, Einschäumen und Massieren, Wässerchen, Crémes und Lotionen. Das alles braucht seine Zeit und erfordert auch seinen Preis – aber für eine halbe Stunde lang kann man sich bequem zurückgelehnt entspannen, die Gedanken schweifen lassen oder auch ganz abschalten. Dazu trägt auch maßgeblich die Atmosphäre bei: Angelehnt zumeist an amerikanische Salons ist die Einrichtung herb-männlich gehalten, mit viel dunklem Holz und Leder, Chesterfieldsofa oder alten Kinosesseln, antiquarischen Accessoires und gedämpftem Licht, mit anspruchsvoller Lektüre und ebenso anspruchsvollen Getränken.

11021170_606501632815246_2921200167952325255_n Tabu sind Radiomusik, schrillbunte Pflegeprodukte im Werbeständer, royale Klatschpresse und kitschige Spardosen mit Beste-Freundin-Namen an der Kasse. Hier wird der Mann vom Mann bedient, und zwar dezent vornehm in Weste und gediegenem Schuhwerk, gerne auch mit Hosenträgern, Fliege, Latzschürze oder Schiebermütze. Der Friseurbesuch wird zum Erholungs-Gesamtpaket – sogar für die Augen. Auch der Begriff Friseursalon wird ersetzt, in Aachen zum Beispiel durch „Kings Barbers“ oder „Baderknechte“ (in Anlehnung an die Vorläufer der Barbiere, welche in den öffentlichen Bädern rasierten, massierten, aber auch gesundheitliche Maßnahmen durchführten). Letzterer kann sogar mit einem ebenso eklektisch eingerichteten Café im Entrée aufwarten.

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Im Vergleich dazu geht es in den türkischen Salons regelrecht hektisch zu: Hier wird im 15-Minuten-Takt rasiert, was aber nicht zu Lasten der Gründlichkeit geht, zumal auch hier Nasenhaare entfernt, aber ebenso Ohrenbehaarung abgeflämmt und Augenbrauen gestutzt werden. Hier ist alles unprätentiöser, gewöhnlicher im besten Sinne, ohne Termin und ohne Chi-Chi – aber dennoch beziehungsweise bei Zeitmangel gerade deswegen eine Wohltat. Statt Alkohol wird hier Tee ausgeschenkt, das Publikum ist vielfältig und bunt gemischt. Aber auch der türkische Fachkollege mit seinen beiden Geschäftspartnern am Anfang der Elsaßstraße hat den Trend erkannt und setzt vermehrt auf hölzerne Gemütlichkeit, wechselte Neonröhren durch akzentuierte Beleuchtung aus, Wartezimmer-Stühle durch ein gemütliches Sofa und vergilbte Werbeplakate durch ansprechende Bilder und Spiegel. Man(n) ist eben wählerischer und anspruchsvoller geworden.

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TEXT: Rainer Güntermann
FOTOS: Die Baderknechte & Kings Barbers

Ribbecks Birnen Nachbars Kirschen und ein Apfelbaum

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Ribbecks Birnen Nachbars Kirschen und ein Apfelbaum 

Jeder Mann sollte in seinem Leben mindestens einen gepflanzt haben, und jeder Gartenbesitzer kann aus dem Nähkästchen plaudern über Schädlingsbefall und Wühlmausattacken, über den Apfel für den Apfelkuchen und die einzig wahre Obstfolge für einen gelungenen Rumtopf. Davon soll aber hier keine Rede sein. Nicht umsonst haben wir auch in der Euregio namhafte Gartenbauexperten, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung zu allen Fachfragen die passenden Antworten haben. Wir wollen uns allein der Geschichte des Obstanbaus widmen – und diese ist mindestens so interessant wie Düngerzusammenstellung, Bestäubungsproblematik oder Frostwiderstandsfähigkeit.

 

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Ganz ohne Wissenschaft wussten bereits unsere Urvorfahren vor Millionen Jahren um den Nährwert von wildwachsenden Früchten, vornehmlich Beeren, die sie zur täglichen Nahrung sammelten. Heute wissen wir, es sind die Vitamine und Mineralstoffe im Obst, die den menschlichen Organismus widerstandsfähig machen. Busch- und Strauchbeeren wurden somit auch zu den ersten kultivierten Nahrungspflanzen bereits tausende Jahre vor der neuen Zeitrechnung. Mit dem Übergang des Menschen vom Jäger und Sammler zu Ackerbau und Viehzucht wurden gezielt Bäume und Sträucher angepflanzt, deren Früchte zum Verzehr geerntet werden konnten. Erste Funde von wilden Äpfeln und Vogelkirschen in der heutigen Türkei stammen aus der Zeit um 6500 v. Chr. im Zweistromland sind bereits gegen 4000 v. Chr. Maulbeerbäume nachzuweisen, in Europa wurden am Bodensee Reste von Holzapfel und –birne gefunden, die bis auf circa 3000 v. Chr. datiert werden können. Die Wiege der Obstkulturen liegt jedoch in Vorderasien und im Orient. Birnen zum Beispiel stammen aus Persien, Äpfel aus Ägypten, die mit beiden verwandte Quitte aus dem Kaukasus, Pflaumen aus Anatolien und Aprikosen aus Assyrien. In Mesopotamien wurden ganze Parkanlagen und Palastgärten mit Obstbäumen bepflanzt. Von hier aus kamen die Baumfrüchte dank der Griechen und Römer nach Südeuropa, wo gegen 1000 v. Chr. der reguläre Obst- und Weinbau beginnt.
istock_84485675_largeDer antike Dichter Homer berichtet in seinem berühmten Heldenepos „Odyssee“ bereits von mehreren Obstsorten in entsprechend geplanten Gärten. Zu dieser Zeit kann man von einer ersten Blütezeit des Obstanbaus unter wissenschaftlichen Aspekten reden. Das sogenannte Okulieren (Veredeln mit einem Triebauge vom Obststamm unter der Rinde eines Wildbaums) wird um 450 v. Chr. ausführlich von dem griechischen Arzt Hippokrates beschrieben, und mit „De Agricultura“ vom römischen Zensor istock_76918049_xxlargeCato erscheint ungefähr 150 v. Chr. die erste Fachschrift über den Feldbau.

Mit den Eroberungszügen der beiden antiken Kulturen gelangten die Früchte nicht nur nach Athen und Rom, sondern auch weiter Richtung Norden über die Alpen nach Germanien und Gallien, wo sich der Obst- und Weinanbau jeweils rasch verbreitete. Um 500 werden in Bayern sogar Strafgesetze erlassen gegen die Beschädigung von Obstbäumen und Obstdiebstahl, wohl auch, weil es lange Zeit als Edelobst kein allgemein zugängliches Lebensmittel ist. Gärten sind rar und klein und vornehmlich für Grundnahrungsmittel bestimmt. Daher sind Obstbäume und ihre Früchte über Jahrhunderte exklusiv dem Adel mit seinen Parkanlagen und den Klöstern mit ihren großen Gärten, später auch wohlhabenden Bürgern vorbehalten, zumal es nur eingeschränkte Lager- und Konservierungsmöglichkeiten gab, und sofortiger Frischverzehr ein Luxusvergnügen war. In den Klöstern wurde das Wissen über Obstkulturen weiterentwickelt, oft in der Vorstellung, mit umfangreichen Obstgärten eine Art irdisches Paradies zu schaffen.

Karl der Große versuchte gegen 800 mit diversen Dekreten den Obstanbau zu forcieren: Die erste Baumschule für Obstgewächse wird gegründet, Hochzeits­- paare müssen einen Apfelbaum pflanzen, und der Obstbaum wird als Kulturgewächs den landwirtschaftlichen Nutzpflanzen gleichgestellt. Nun verbreitete sich der Obstanbau auch im heutigen Norddeutschland.

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Als großer Förderer der nun „Pomologie“ genannten Wissenschaft um den Obstanbau gilt Ende des 16. Jahrhunderts der Kurfürst August von Sachsen, der nicht nur für seine Untertanen ein „Künstliches Obstgartenbüchlein“ herausgibt, sondern stets einen hohlen Stock mit sich führt, welcher mit Obstkernen gefüllt ist, um diese überall aussäen zu können. Er setzt Prämien für Anpflanzungen aus und gebietet jedem Ehepaar, sogar gleich zwei Obstbäume zu pflanzen und fortan zu pflegen.

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Mit der Aufklärung und Liberalisierung der Gesellschaft wird auch der Obstanbau zum Allgemeingut, wenngleich auch noch allein zur Selbstversorgung uns abgesehen von regionalen Märkten nicht für den Handel. Um sich auch weiterhin vom Volk abzugrenzen, konzentriert sich der Adel nun darauf, seltene und veredelte Obstsorten zu sammeln und in kunstvollen Spalieren aufzuziehen.

Mit der industrieellen Revolution im 19. Jahrhundert entsteht in den wachsenden Städten eine große Nachfrage nach dem Nahrungsmittel Obst, was nun auf neuen Straßen und einem ausgebauten Schienennetz vom Erzeuger zum Verbraucher transportiert wird. Die Erfindung von mineralischem Dünger 1840 bewirkte eine enorme Ausdehnung der Anbauflächen und vor allem der Ernteerträge. Große, zusammenhängende Obstplantagen entstehen im Alten Land bei Hamburg, am Rhein bei Bonn, am Bodensee, in der Steiermark und in Südtirol, oft einhergehend mit Absatzgenossenschaften und Großmärkten. Der Großteil der Bauern hatte jedoch nach wie vor nur eine begrenzte Anbaufläche, die optimal genutzt werden musste. Daher ging man dazu über, Obstbäume locker auf Wiesen zu verteilen, um darunter gleichzeitig das Vieh weiden lassen zu können, oder entlang der Wege Obstbaumalleen anzulegen. In seltenen Fällen wurde unter verstreuten Obstbäumen auch Ackerbau mit Kartoffeln oder Gemüse betrieben.

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Im Jahr1860 wird der erste deutsche Pomologen-Verein gegründet, kurz danach entstehen vergleichbare Zusammenschlüsse in ganz Europa, die sich gegenseitig austauschen. In Deutschland zählt man nun allein über 2000 verschiedene Apfelsorten, worauf bereits 1890 von den Pomologen sogenannte Sortenempfehlungen ausgegeben und zur Vernichtung „unwerter“ Sorten aufgerufen wurde, was einen rapiden Rückgang der Sortenvielfalt einläutete. Diese Entwicklung fand in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt mit der Bewilligung von Rodungsprämien für Obstbäume. Bis zu 80 Prozent der Streuobstwiesen fallen dem zum Opfer, Hochstammbäume sind nicht mehr gefragt und werden durch Niederstammkulturen ersetzt. Diese sind leichter zu pflegen und zu ernten, was den deutschen Handel wettbewerbsfähig halten soll. Innerhalb der EU sorgen Verordnungen und einheitliche Qualitätsstandards für einen weiteren Rückgang der Artenvielfalt.

Von 4500 beschriebenen Apfelsorten sind im Handel nur noch ein gutes Dutzend erhältlich. Die in Supermärkten maximal fünf angebotenen Sorten kommen zumeist aus Übersee. Dieser Fehlentwicklung will der 1991 neu gegründete Pomologen-Verein entgegenwirken. Er fördert die Neuanlage von Streuobstwiesen, will die alte Sortenvielfalt erhalten und deren Wiederverbreitung vorantreiben. Parallel dazu hat sich der Bio-Anbau zu einem stabilen Anbau- und Absatzmodell etabliert, welches erfolgreich der anfälligen Massenproduktion entgegentritt und dem Verbraucherwunsch nach mehr Geschmack und gesundem Inhalt statt makellosem Aussehen Rechnung trägt.

Somit braucht auch Herr Ribbeck von Ribbeck sich nicht mehr im Grabe umzudrehen, und die Kirschen in Nachbars Garten locken wieder wie eh und je mit Geschmack und Duft.

 

TEXT: Rainer Güntermann